Coronakrise im Norden Schweden wählt den Sonderweg

Schulkinder lernen im Klassenzimmer, selbst die Skisaison geht weiter: In Schweden verläuft das Leben trotz rasant steigender Corona-Zahlen in weiten Teilen normal. Kann das gut gehen?
Straßenszene in Stockholm

Straßenszene in Stockholm

Foto: JONATHAN NACKSTRAND/ AFP

Seit 13 Jahren lebt Christian Christensen in Stockholm, er mag die Stadt, aber seit einigen Tagen ist ihm mulmig, wenn er aus dem Haus geht. "Die Straßen sind zwar deutlich leerer als sonst, und die meisten Menschen halten Abstand voneinander", erzählt er in einem Skype-Gespräch. "Ich sehe jedoch immer noch volle Restaurants." Bei einem nächtlichen Spaziergang am Wochenende kam er an lebhaft frequentierten Klubs und Bars vorbei. "Die Leute standen dort dicht gedrängt wie immer", fröhlich und trinkend.

"Riskantes Spiel mit der Gesundheit der Bevölkerung"

"Nur die persönlichen Eindrücke" könne er schildern, darauf legt Christensen Wert, denn schließlich sei er kein Mediziner. Der US-Amerikaner schwedisch-dänischer Herkunft unterrichtet Journalismus an der Stockholmer Universität. Seine Eindrücke lassen ihn allerdings daran zweifeln, ob die schwedische Strategie im Umgang mit der Corona-Pandemie die richtige ist. Es könne sein, sagt er, dass gerade "ein riskantes Spiel mit der Gesundheit der Bevölkerung" stattfinde.

Während die Menschen fast überall in Europa massiven Einschränkungen unterworfen sind, gehen die Schweden einen anderen Weg. Sie wollen auch in Zeiten der Krise soviel Normalität wie möglich aufrechterhalten. Briten und Niederländer, die sich bis vor wenigen Tagen mit den Skandinaviern untergehakt hatten, haben eine Kehrtwende gemacht und das öffentliche Leben mittlerweile drastisch heruntergefahren.

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Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

In Schweden ist vieles noch wie zu Vor-Corona-Zeiten: Kitas haben geöffnet, Schulkinder bis zur 9. Klasse sitzen weiterhin im Unterricht zusammen und dürfen auf Spiel- und Sportplätzen toben. Ihre Eltern mögen zwar bitte so viel wie möglich im Homeoffice arbeiten und keine betagten Angehörigen besuchen, aber mehr als gute Ratschläge sind das nicht - genau wie die Empfehlung, keine unnötigen Reisen zu unternehmen und Menschenansammlungen zu meiden.

Strenger ist der Ton von Politikern und Behörden lediglich gegenüber Älteren und denen, die gesundheitlich vorbelastet sind: Sie sollen im Haus bleiben. Für Oberstufenschüler und Studenten gibt es Fernunterricht.

Von Ausgangssperren wie in Italien, Frankreich oder Spanien ist Schweden weit entfernt. Während sich in Deutschland und anderen Staaten höchstens zwei Menschen außerhalb der Familie physisch nahekommen dürfen, gilt in dem nordischen Land ein großzügiges Limit - von Sonntag an liegt es bei 50 Personen, herabgesetzt von den bisher geltenden 500. Manche Theater nahmen deshalb Vorstellungen für bis zu 499 Besucher ins Programm. Doch nach öffentlichen Protesten wurden die Aufführungen abgesagt, die Häuser haben nun geschlossen.

Die andere gesetzliche Regel, die in dieser Woche erlassen wurde, schreibt vor: In allen Restaurants und Lokalen müssen die Gäste an Tischen sitzen, mit Klubpartys und dem Abhängen in Bars ist es damit vorbei.

An ihrer prinzipiellen Linie hält die Regierung in Stockholm aber fest: Voller Zuversicht verlässt sie sich auf den mündigen schwedischen Bürger.

Der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven bekommt für seinen Kurs viel Zustimmung. 56 Prozent der Schweden sind laut einer Umfrage der Meinung, dass ihr Land die Krise gut oder sehr gut bewältigen wird. Am vergangenen Sonntagabend richtete sich Löfven zum ersten Mal in einer Fernsehansprache direkt an seine Bürger, 80 Prozent lobten ihn danach.

Es war ein sehr schwedischer Auftritt, der viel über die Mentalität der Mehrheit im Land verrät. "Unsere Gesellschaft ist stark", sagte Löfven. "Der einzige Weg" im Kampf gegen die Epidemie bestehe darin, "die Krise als eine Gesellschaft anzugehen, in der alle Verantwortung für sich selbst, für die anderen und für unser Land übernehmen".

In dieses Modell passt auch die Entscheidung, trotz Coronakrise die Skisaison fortzusetzen. Schweden ist das einzige Land in Europa, in dem die Pisten offen bleiben.

Vor allem an den Ostertagen füllen sich die Skiorte des Landes, in diesem Jahr rechnen die Touristikunternehmer allerdings mit weniger Gästen. Einschränkungen gibt es bei der Nutzung geschlossener Gondeln, und in den Skibussen sollen alle Abstand voneinander halten. Bei den finnischen und norwegischen Nachbarn wurde die sonst bis in den Mai gehende Saison bereits wegen der Pandemie beendet.

Warum wird es bald besser? "Das sagt mir mein Bauchgefühl"

Johan Giesecke vom Stockholmer Karolinska Institut findet es richtig, die Pisten offenzuhalten, er empfiehlt seinen Landsleuten viel frische Luft und Bewegung. Der emeritierte Professor berät die Weltgesundheitsorganisation über Infektionskrankheiten und war von 1995 bis 2005 oberster staatlicher Epidemiologe in Schweden.

Schon im Mai werde die Infektionsrate deutlich zurückgehen, glaubt Giesecke. Was macht ihn so sicher? "Das sagt mir mein Bauchgefühl", beantwortet er die Frage in einer Mail. "Dies ist die fünfte Pandemie während meines Berufslebens: Aids 1982, Rinderwahnsinn 1991, Sars 2003, Schweinegrippe 2009 und jetzt Covid-19."

Dass Schweden womöglich die falsche Richtung eingeschlagen haben könnte, bereitet ihm keine Sorgen: "Ja, wir sind auf einem Sonderweg", erklärt Giesecke, aber das Problem hätten nicht sie, sondern die anderen. "In fast allen EU-Staaten hielten es die Politiker für nötig, Stärke zu zeigen, und sie haben eine Reihe von Beschränkungen eingeführt, für die es bloß eine sehr geringe wissenschaftliche Grundlage gibt."

Gieseckes Nachfolger Anders Tegnell argumentiert ähnlich. Schwedens oberster Seuchenbekämpfer ist im Land zurzeit allgegenwärtig, nahezu täglich erscheint er auf Pressekonferenzen. "Im Moment haben wir in Schweden eine stabile Lage", sagte er bei einem Auftritt am Mittwoch.

Dass die Corona-Kurven auch in dem nordischen Land exponentiell ansteigen, beunruhigt ihn anscheinend nicht. Laut der Zählung der Johns-Hopkins-Universität gibt es 3069 registrierte Infektionen in Schweden, 105 Menschen sind an Covid-19 gestorben. Wie Giesecke macht Tegnell seinen Landsleuten Hoffnung, dass die Viruserkrankungen im Frühjahr und Sommer zurückgehen - wegen des besseren Wetters werde das Schlimmste dann hinter ihnen liegen.

Coronavirus, Covid-19, Sars-CoV-2? Was die Bezeichnungen bedeuten.

Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".

Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.

Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.

Tegnell dürfte im Moment die einflussreichste Person in Schweden sein. Dabei hat er kein gewähltes Amt, sondern ist bei einer Behörde beschäftigt, der Agentur für Volksgesundheit. Als "statsepidemiolog" macht er die Vorgaben, nach denen die Regierung handelt. Bei seinen Auftritten trägt der hagere 63-Jährige gern schlackernde Pullis, sein Habitus unterstreicht den Eigensinn des Wissenschaftlers, der auch unbequeme Wahrheiten ausspricht.

Die Vorstellung, das Coronavirus lasse sich irgendwie aufhalten, hält er für illusorisch. Nach dem von ihm angenommenen Rückgang während der wärmeren Jahreszeit werde der Erreger im Herbst wiederkehren, sagte er im schwedischen Fernsehen. "Wichtig wird dann sein, wie stark die Bevölkerung bis dahin infiziert wurde." Die Pandemie könne "nur durch Herdenimmunität oder eine Kombination von Immunität und Impfung" gestoppt werden, "es ist im Grunde dasselbe". Einen Impfstoff werde es nur mit viel Glück bereits im nächsten Jahr geben, vermutet Tegnell.

Zweifel an seinen Vorgaben weist er zurück: "Wir haben uns die Abläufe in Wuhan genau angeschaut, von dort gibt es die verlässlichsten Informationen." Andere Länder würden sich auf die Daten von Grippewellen stützen, die seien weniger aussagekräftig.

"Stockholm ist inzwischen ein Hotspot der Infektionen"

Über solche Äußerungen schüttelt der Krankenhausmanager Jouko Vanhala nur den Kopf. "In Schweden muss immer erst alles wissenschaftlich bewiesen sein", sagt er und fügt spöttisch hinzu: "Sonst fürchten die Experten, dass sich Alfred Nobel im Grab herumdreht."

Vanhala ist Finanzchef der drei staatlichen Kliniken in der Provinz Halland an der schwedischen Westküste. Am Telefon berichtet er, wie er die Situation in Zeiten von Corona einschätzt. "Stockholm ist inzwischen ein Hotspot der Infektionen", sagt er. "Ich verstehe nicht, warum die Behörden dort die Leute nicht vom Reisen abhalten." In den ländlichen Regionen, etwa in den Skigebieten, sei die medizinische Versorgung nicht so gut wie in der Hauptstadt.

Selbst in Stockholm muss rasch nachgerüstet werden. Regulär gibt es dort lediglich 90 Intensivbetten, das Militär errichtet in den Messehallen gerade ein Notlazarett. In ihrem "realistischen Worst-Case-Szenario" rechnet die Agentur für Volksgesundheit mit 250 Corona-Kranken, die in der Hauptstadt auf die Intensivstation angewiesen sein könnten. Im ganzen Land würden auf dem Höhepunkt der Epidemie bis zu 1400 Intensivbetten benötigt, bisher stehen bloß 500 zur Verfügung.

Vanhala sagt: "Das sind wirklich wenige im Vergleich zu vielen europäischen Ländern." In den Neunzigerjahren habe Schweden noch über 4300 Intensivbetten verfügt, aber dann sei im Gesundheitswesen zu viel gespart worden. Um für einen möglichen Ansturm von Covid-19-Infizierten gerüstet zu sein, haben sie in Halland vor einer der Kliniken ein Behandlungszelt errichtet. Möglicherweise bleibe den Ärzten irgendwann nur die "Triage", die Aufteilung der Patienten nach dem Schweregrad ihrer Erkrankung.

Besser als die Schweden machten es die Finnen bei der Corona-Bekämpfung, meint Vanhala, der selbst vor 40 Jahren aus Finnland gekommen ist. "In Helsinki geht die Regierung kein Risiko ein, sondern ergreift harte Maßnahmen", sagt er.

Die nordischen Länder suchen sonst fast immer nach einer gemeinsamen Linie, aber wie in der EU handelt diesmal jeder für sich.

Die Dänen gehörten zu den ersten Europäern, die ihre Grenzen für Einreisende aus anderen Staaten dichtmachten. Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, Sozialdemokratin wie ihr Stockholmer Kollege Löfven, warnte ihre Landsleute vor Urlaubsfahrten in die schwedischen Skigebiete und sagte: "Wenn wir auf definitive Beweise warten müssen, um gegen Corona zu kämpfen, dann wird es meiner festen Überzeugung nach zu spät sein."

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