Coronakrise Risikofaktor Ungleichheit

Hohes Alter, Vorerkrankungen - damit steigt bekanntermaßen das Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Doch weltweit könnte es noch einen weiteren Gefahrenherd geben.
Von Jörg Schindler, London
Obdachloser in Manchester

Obdachloser in Manchester

Foto: Christopher Furlong/ Getty Images

Mehr als 1,8 Millionen Infizierte in den USA, mehr als eine halbe Million in Brasilien, eine gute Viertelmillion in Großbritannien: In vielen Teilen der Welt sind die Covid-19-Fallzahlen in jenen Ländern am höchsten, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich am größten ist.

Nach Recherchen des SPIEGEL zeichnet sich damit immer deutlicher ein weiterer Risikofaktor für die Ausbreitung der Pandemie ab: soziale Ungleichheit.

Ein Team von SPIEGEL-Dokumentaren hat in den vergangenen Wochen den Zusammenhang zwischen dem Arm-Reich-Gefälle einzelner Länder und den dortigen Covid-19-Fallzahlen untersucht - mit zum Teil verblüffenden Ergebnissen.

So ist etwa Brasilien nicht nur das am heftigsten vom Coronavirus betroffene Land Lateinamerikas, sondern gleichzeitig auch jenes mit der größten Einkommensungleichheit. Dasselbe trifft für die Vereinigten Staaten in Nordamerika und für Südafrika zu.

Kolossale politische Verwerfungen

Im Westen Europas sind die drei ungleichsten Länder Großbritannien , Italien und Spanien, also just jene Staaten, die am härtesten von dem neuartigen Virus heimgesucht wurden. In Asien ist China das Land, in dem die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahrzehnten besonders drastisch auseinandergegangen ist.  

Überraschend sei der Zusammenhang nicht, sagt der britische Gesundheitswissenschaftler Richard Wilkinson dem SPIEGEL. In seinem Buch "The Spirit Level" hätten er und seine Kollegin Kate Pickett bereits vor zehn Jahren festgestellt, dass ungleiche Gesellschaften ungesunde Gesellschaften seien.

Je ungleicher Einkommen und Vermögen verteilt seien, desto heftiger litten die Menschen in betroffenen Gesellschaften - quer durch alle Schichten - an Problemen wie Depression, Drogenabhängigkeit und hohen Suizidraten. Auch seien in den entsprechenden Ländern sehr viel mehr Menschen übergewichtig und durch Atemwegserkrankungen geschwächt – Risikofaktoren, die in der jetzigen Pandemie eine entscheidende Rolle spielen.

Wilkinson warnt vor erheblichen Folgeproblemen. Vor allem die USA könnten in Sachen Ungleichheit bereits einen "Punkt ohne Wiederkehr" erreicht haben, dort drohten womöglich "kolossale politische Verwerfungen". "Es ist bezeichnend, dass in den USA eine der sichtbarsten Reaktionen auf die Pandemie die massive Zunahme der Waffenverkäufe ist."

Kein großer Gleichmacher

Ein möglicher Zusammenhang zwischen hohen Infektionszahlen und großem Arm-Reich-Gefälle lässt sich in den Vereinigten Staaten auch auf regionaler Ebene beobachten. So waren etwa die US-Bundesstaaten New York, New Jersey, Connecticut, Massachusetts und Louisiana sowie Washington, D.C. zum Zeitpunkt der Recherche die größten Corona-Krisengebiete.

In vier dieser Regionen – Washington, New York, Connecticut und Louisiana – wurde der höchste sogenannte Gini-Koeffizient in den USA gemessen. Mit diesem Wert wird allgemein die Spanne zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Einkommen innerhalb einer Bevölkerung beziffert.

Arm und Reich: Blick auf die Favela Rocinha (links) und ein Neubau im reichen Rio-Viertel Sao Conrado (rechts)

Arm und Reich: Blick auf die Favela Rocinha (links) und ein Neubau im reichen Rio-Viertel Sao Conrado (rechts)

Foto: MAURO PIMENTEL/ AFP

In Großbritannien befinden sich die Krisenherde London, der Nordwesten Englands und Schottland unter den Top drei der ungleichsten Regionen. In Südafrika sind die Landesteile Western Cape, Eastern Cape und Kwa-Zulu Natal besonders von Covid-19 betroffen. Alle drei Provinzen gehörten in den vergangenen Jahren nach Einschätzung des südafrikanischen Statistikamtes zu den ungleichsten des Landes.

In der Pandemie hat die Ungleichheit fatale Folgen: Sowohl in den USA als auch in Großbritannien starben in den vergangenen Monaten bei Weitem mehr People of Color an Covid-19 als Weiße.

"Diese Seuche trifft zum größten Teil die Armen und jene Menschen, die an vorderster Front stehen und die wir nun euphemistisch als 'unentbehrliche Arbeiter' bezeichnen", sagte der Völkerrechtler Philip Alston  dem SPIEGEL. Es handele sich "ganz sicher nicht um eine Krankheit, vor der wir alle gleich sind", so Alston, der bis April dieses Jahres Uno-Sonderbeauftragter für extreme Armut war. Die bisherigen Hilfsangebote der Industrieländer für von der Pandemie betroffene arme Regionen nannte er "erbärmlich und herzlos".

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten