Lockdown in Shanghai »Ich jaule nachts aus dem Fenster, um nicht wahnsinnig zu werden«
Cameron Wilson
»Es ist ein ziemlich großer Karton.«
Dass sich DER SPIEGEL mal für seine Gemüsebestellung interessieren würde, das hätte Cameron Wilson vermutlich nie gedacht.
Cameron Wilson, Lebt seit 16 Jahren in Shanghai
»Bambusschösslinge.«
Es ist bei weitem nicht die einzige Überraschung für den Schotten, der in der Kommunikationsbranche arbeitet. Wilson blickt gerade ziemlich ungläubig auf seinen Alltag – im Corona-Lockdown in Shanghai.
Cameron Wilson
»Als unser Lockdown verhängt wurde, hieß es, er würde 48 Stunden dauern. Jetzt sind wir bei Tag 24.«
Die Ausgangssperre gilt weiter für die große Mehrheit der 26 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Shanghais. China bleibt bei seiner Strategie: Null-Covid. Anders als 2020 ist das Verlassen der Wohnungen diesmal verboten.
Cameron Wilson
»Es ist einfach unglaublich, dass wir das nach zwei Jahren erneut machen müssen, wo doch doch fast alle Menschen in China geimpft sind und Omikron viel ungefährlicher ist als früher. Es ist wirklich … mir fehlen die Worte... eine sehr merkwürdige Situation.«
Rückblick: Von den dystopischen Zuständen im Jahr 2022 ahnte 2018 niemand etwas, als DER SPIEGEL Cameron Wilson in einem der heute verwaisten Innenhöfe Shanghais trifft. Wilson lebt damals bereits seit zwölf Jahren in China, spricht fließend Mandarin, hat mit seiner chinesischen Frau eine Familie gegründet – und ist voller Bewunderung für die chinesische Kultur.
Cameron Wilson
»Es gibt hier so viel Weisheit, dazu die Art und Weise, wie Chinesen ihre Familie behandeln, wie sie ihre familiären Beziehungen über alles andere stellen, wie sie mit älteren Menschen umgehen, wie sie ihre Vorfahren verehren. Das alles berührt mich sehr.«
Heute darf Wilson nur vor die Tür, um eine Lebensmittelbestellung abzuholen, wenn denn eine ankommt, oder um den vorgeschriebenen Coronatest zu machen. Wilson wurde bislang 17 oder 18 Mal getestet.
Cameron Wilson
»Man hat dann noch ein wenig Zeit, die frische Luft zu genießen. Dann kommt aber auch schon der Wart und bittet dich, schnellstmöglich in die Wohnung zurückzukehren. Das ist keine besonders aufregende Existenz gerade.«
Cameron Wilson
»Weil ich mich totlangweile, jaule ich abends aus dem Fenster , um nicht wahnsinnig zu werden. Ich hoffe immer auf eine Reaktion. Gestern hat wirklich jemand geantwortet. Aber meiner Frau war es so peinlich, dass sie mich vom Fenster weggezogen hat. Wenn man für 24 Tage in der eigenen Wohnung eingesperrt ist, dann passiert so etwas.«
Nicht nur Wilson ruft aus dem Fenster, in sozialen Netzwerken kursieren Clips wie dieser. Die Menschen rufen angeblich Aufmunterungen, doch viele in Shanghai sind inzwischen verzweifelt. Der Unmut über den Lockdown wächst. Andere Clips sollen drastische Aktionen der Seuchenbekämpfer zeigen: infizierte Kinder, die von ihren Eltern getrennt werden, Prügel für jemanden, der gegen die Lockdown-Regeln verstoßen hat, Staatsbedienstete, die eine Haustür zuschweißen. So dramatisch ist die Lage von Cameron Wilson und seiner Familie nicht, ihm reicht es trotzdem.
Cameron Wilson
»Wir arbeiten von zu Hause. Ich habe außerdem eine sechsjährige Tochter. Sie wird online unterrichtet, und sie braucht viel Ermutigung, sich darauf zu konzentrieren.«
Hinzu kommt die Furcht vor einem positiven Test – und das nicht nur wegen der Krankheit.
Cameron Wilson
»Wird man positiv getestet, dann wird man in ein Isolationszentrum gebracht. Dort gibt es wahrscheinlich keine Duschen, das Licht bleibt nachts an und man muss dort bleiben, bis man wieder negativ ist. Den meisten Menschen in Shanghai graust es davor. Die Menschen haben mehr Angst vor diesen Folgen von Covid als vor der Krankheit selbst.«
Inzwischen wird die Ausgangssperre für manche Wohnblocks in Shanghai aufgehoben. Passierscheine werden ausgegeben – zu Fuß gehen ist erlaubt, Autofahren nicht. Die Lockerungen verunsichern Wilson eher noch mehr.
Cameron Wilson
»Ehrlich gesagt: So sehr ich draußen sein möchte, halte ich es für etwas merkwürdig, denn die Fallzahlen in Shanghai steigen derzeit weiter. Ich verstehe nicht, wie das mit der Null-Covid-Strategie zusammenpasst, die ja extrem strikt ist. «
Im Staatsfernsehen wird der Einsatz von 40.000 zusätzlichen Helfern in Shanghai verkündet. Die Corona-Zahlen in China sind auf dem höchsten Stand seit Beginn der Pandemie.
Cameron Wilson
»Selbst wenn sie die Lage jetzt unter Kontrolle bringen, und davor steht ein großes Wenn, was machen sie dann? Wir stecken in einem Teufelskreis.«
Inzwischen geht es für Cameron Wilson um deutlich mehr als darum, ein paar anstrengende Wochen oder Monate durchzustehen.
Cameron Wilson
»Das soll nicht wie eine Beleidigung Chinas klingen, aber was würden Sie als Ausländer in China machen? Ich komme aus Schottland, ich war seit August 2019 nicht mehr zu Hause. Meine Eltern haben ihre Enkeltochter seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen. Das ist wirklich schwierig zu rechtfertigen. Auf meine Familie und viele andere Menschen in Shanghai kommen schwierige Entscheidungen zu. Man kann so nicht leben. Dass das in einer hochentwickelten und modernen Stadt wie Shanghai passieren kann, dass Menschen hungern, ist einfach unglaublich.«
Der Wohnblock der Wilsons bleibt vorerst dicht. Das größte Thema hier ist wie vielerorts in Shanghai die Versorgung mit Essen. Die verläuft in der Realität weniger reibungslos als es das Staatsfernsehen zeigt, denn viele Fahrer sind ebenfalls im Lockdown.
Cameron Wilson
»Meine Frau war zeitweise sehr verärgert. Sie ist letztens ausgeflippt vor Sorge, dass wir nicht genug zu essen bekommen. Sie verbringt jeden Tag viel Zeit vor ihrem Telefon und versucht, Lebensmittel zu bestellen. Hier ist einer der hungrigen Münder.«
Diesmal hatten die Wilsons Glück.
Cameron Wilson
»Ich weiß nicht, was das ist.«
Zum Abendbrot gib es Reis mit Gemüse.
Cameron Wilson
»Das ist Lotuswurzel.«
Wie es nach der Mahlzeit weitergeht, wie lange die Wilsons noch im Lockdown bleiben müssen,das weiß niemand.
Cameron Wilson
»Das ist so etwas wie Frühlingszwiebeln. Eine sehr lange Gurke.«