Corona-Mutation in Großbritannien »Schlimmste Weihnachten seit dem Zweiten Weltkrieg«

Kurz vor dem Ende der Brexit-Übergangsfrist bricht in Großbritannien Chaos aus: Eine neue Corona-Mutation grassiert, am Hafen von Dover stauen sich Lastwagen. Und ein Deal mit der EU ist auch nicht in Sicht.
Aus London berichtet Julia Smirnova
Premier Boris Johnson am Samstag in 10 Downing Street

Premier Boris Johnson am Samstag in 10 Downing Street

Foto: WPA Pool / Getty Images

Die neue Mutation des Coronavirus nimmt in Großbritannien den Brexit vorweg: Seit Sonntagabend ist der Verkehr zu Frankreich durch den Eurotunnel eingestellt. Auch der Hafen von Dover ist für Laster gesperrt, die über den Ärmelkanal auf dem Weg nach Calais sind. Es ist ein Szenario, das erst nach dem 31. Dezember, dem Ende der Brexit-Übergangsfrist, erwartet worden war. Ein europäisches Land nach dem anderen macht seit dem Wochenende seine Grenzen für Reisende aus Großbritannien dicht.

DER SPIEGEL

Die neue Mutation des Coronavirus, die sich vor allem in England rasant ausbreitet und höchst ansteckend sein soll, steuert das Land auf ein düsteres und trauriges Weihnachtsfest zu, ohne Familienfeiern und womöglich noch mit Engpässen an frischen Lebensmitteln vom Kontinent. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan sprach im Sender SkyNews von »schlimmsten Weihnachten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs«.

Der britische Premierminister Boris Johnson musste eine Kehrtwende vollziehen – wie so oft im Corona-Jahr: Noch am Mittwoch hatte er im Parlament dem Labour-Chef Keir Starmer vorgeworfen, dieser wolle mit seinen Forderungen nach strikteren Corona-Maßnahmen »Weihnachten abschaffen«.

Es sei »unmenschlich«, den Menschen zu verbieten, an diesen Tagen zusammenzukommen, hatte er erklärt.

Und nun wird Johnson selbst bei Twitter als »Grinch« bespottet – jene missgelaunte Filmfigur, die Weihnachten gestohlen hat: Am Samstag durchkreuzte er mit seiner plötzlichen Ankündigung die Weihnachtspläne von knapp 18 Millionen Menschen in London und dem Südosten Englands. Für diese Regionen wurde eine neue Stufe vier von Corona-Einschränkungen eingeführt. Die Einwohner müssen mit wenigen Ausnahmen zu Hause bleiben, sie dürfen weder verreisen noch Weihnachten mit anderen Verwandten und Freunden aus anderen Haushalten zusammen feiern.

Auf der Pressekonferenz am Samstag erklärte Johnson seine Kehrtwende damit, dass man wissenschaftlichen Erkenntnissen folge. Das sagt er oft seit dem Beginn der Pandemie. Dabei hat er unpopuläre und schwierige Entscheidungen sehr lange hinausgezögert – und zwar häufig gerade gegen die Meinung vieler Experten.

Zögerlicher Kurs

Zu Beginn der Pandemie hat Johnson auf die Idee von »Herdenimmunität« gesetzt, später als andere Länder in Europa den Lockdown eingeführt und damit kostbare Zeit verloren. Im September trotzte er lange dem Rat der Wissenschaftler, einen zweiten temporären Lockdown einzuführen, nur um später doch seine Meinung zu ändern. Und erst jetzt kommt die nächste Kehrtwende mit Weihnachten, obwohl die Regierung spätestens seit Oktober von der neuen Mutation weiß. Dabei ist Großbritannien das Land mit der zweithöchsten Zahl an Corona-Toten in Europa.

Johnsons zögerlicher Kurs hat zudem die Krise der Wirtschaft noch verschärft: Die Lockdowns begannen zu spät und mussten deshalb relativ lange durchgehalten werden. Die Haushaltsbehörde, das »Office for Budget Responsibility«, rechnet für 2020 mit einer Rezession von 11,3 Prozent, es wäre die schlimmste seit 300 Jahren.

Der Zickzackkurs stiftete unter den Briten große Verwirrung. Weil sich die Regeln und die Strategie so schnell änderten, werden sie von vielen nicht mehr ernst genommen. Am Samstagabend herrschte in London Chaos und Gedränge etwa am Bahnhof von St. Pancras, als Menschen versuchten, im letzten Moment noch die Hauptstadt zu verlassen. Ähnlich voll waren die Flughäfen am Sonntagabend.

Nicht einmal in seiner eigenen Partei kommt Johnsons Zauderstrategie gut an. Charles Walker, ein konservativer Hinterbänkler und stellvertretender Vorsitzender der einflussreichen Gruppe »1922 Committee«, vermutete, dass die Regierung so lange mit den neuen Einschränkungen zögerte, um eine Debatte und Abstimmung im Parlament darüber zu vermeiden. Und Mark Harper, der Vorsitzende der neu gegründeten »Covid Recovery Group«, rief dazu auf, das Parlament wieder zusammenzurufen, um über die Regeln für Weihnachten abzustimmen. 

Im Corona-Chaos bleibt es fast unbemerkt, dass die nächste Deadline der Brexit-Verhandlungen ohne Ergebnis verstrich. Das Europäische Parlament hatte eigentlich gewarnt, dass sich London und Brüssel bis zum vergangenen Sonntag auf ein Abkommen einigen sollen, damit es vor dem Ende der Übergangsfrist am 31. Dezember ratifiziert werden kann. Doch auch hier zögert Johnson und wartet ab.

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