Corona-Pandemie in Syrien "Wir heißen den Tod willkommen"

Gesundheitsmitarbeiter überwachen die Desinfizierung von Straßen einer syrischen Stadt
Foto: Baderkhan Ahmad/ APBis vor einer Woche noch sah Syrien auf der Landkarte der Corona-Infektionen aus wie eine Insel der verschont Gebliebenen: kein einziger Fall. Alle Verdachtspersonen seien negativ getestet worden, hieß es aus Damaskus. Und das, obwohl sämtliche Nachbarstaaten rasch ansteigende Zahlen verzeichneten.
Erst am 21. März meldete das syrische Gesundheitsministerium einen ersten Fall, den es schlecht hätte geheim halten können: Eine Studentin war aus London über die Vereinigten Arabischen Emirate und Beirut nach Damaskus zurückgekehrt und schon beim ersten Zwischenhalt positiv getestet worden.
Warum sie nicht schon von den dortigen Behörden unter Quarantäne gestellt wurde, ist unklar. Angeblich handelt es sich um die Tochter eines mächtigen Regimefunktionärs.
Bis zum Samstag meldeten die syrischen Behörden vier weitere Fälle, Sonntagabend einen ersten Todesfall. Doch das, so scheint es, ist eine Lüge. Nach Recherchen des SPIEGEL und des Analyseportals "Syria in Context" grassiert Covid-19 seit Wochen in Syrien, verbreitet sich rasant in mehreren Großstädten. Nur darüber gesprochen werden darf nicht.
"Bitte nennen Sie nicht mal den Namen meiner Stadt", sagte ein syrischer Arzt aus der Küstenregion schon vor zwei Wochen, "und um Gottes willen nicht den Namen des Krankenhauses! Die Männer von der Staatssicherheit kommen immer wieder, haben allen eingeschärft, nichts, absolut nichts zu erzählen, was hier abläuft. Sonst wären wir tot."
Wobei er selbst auch nicht exakt sagen könne, woran die Patienten litten, die mit Lungenentzündung, Atemnot und extrem hohem Fieber seit Tagen in immer größerer Zahl eingeliefert würden: "Wir können nicht testen. Wir schicken Abstriche nach Damaskus, aber erhalten keine Antwort."
Auch von dort schildern Ärzte und Pfleger ein ähnliches Szenario, berichten von sprunghaft ansteigenden Krankenzahlen und ersten Toten. Zwei Ärzte des Tischrin-Militärhospitals erzählen, sie hätten eine ganze Reihe ausländischer Milizionäre mit Covid-19-Symptomen behandelt: Männer aus dem Pool der Tausenden, die aus Afghanistan, Pakistan, dem Libanon, dem Irak und aus Iran nach Syrien gekommen sind, um den Bodenkampf für Baschar al-Assads Diktatur gegen die Rebellen zu führen.
Dass aus ihren Reihen zumindest einige der frühen Infektionsherde stammen, wird gestützt von den Ergebnissen pakistanischer Gesundheitsbehörden: Die veröffentlichten bereits am 9. und am 10. März, dass insgesamt sechs auf unterschiedlichen Wegen aus Syrien zurückgekehrte Männer positiv auf das Coronavirus getestet wurden.
Eine Ärztin aus Damaskus sagt, dass sie allein in ihrem Krankenhaus 50 Corona-Todesfälle gezählt habe. "Wir haben nicht genügend Medikamente. Wir haben keinen Platz, um die Kranken in Quarantäne zu stecken. Die Menschen sterben. Und dann heißt es nur, sie seien an einer Lungenentzündung erkrankt."
Eine Kollegin erzählt, die Soldaten an den Checkpoints würden allesamt keine Masken oder Handschuhe tragen, wenn sie die Papiere von Bürgerinnen und Bürgern kontrollierten. "Als ich sie fragte, warum, antworteten sie: Wir heißen den Tod willkommen, wenn er kommt."

Die Menschen in Idlib wissen nicht, wohin
Foto: Felipe Dana/ dpaAus Aleppo berichtet ein Arzt, dass sie innerhalb weniger Tage vier Tote gehabt hätten:
Lungenentzündung,
extrem rasche Verschlechterung des Gesundheitszustands,
Atemstillstand.
Ein örtlicher Krankenwagenfahrer erzählt, sie würden seit etwa zwei Wochen immer mehr Erkrankte mit denselben Symptomen ins Universitätsklinikum bringen. Doch über all dies darf nicht gesprochen werden im Reich Assads. Syrien ist eine Insel, aber eher eine der völligen Realitätsleugnung.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Bis vergangene Woche verkündeten die Staatsmedien unverdrossen, dass es in Syrien keine Infektionsfälle gebe und sämtliche Tests seit Wochen negativ verlaufen seien.
Wobei verschwiegen wurde, dass positive Ergebnisse lange Zeit gar nicht möglich gewesen wären: Denn es gab keine Test-Sets. Die ersten wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 13. März nach Damaskus geliefert.
"Hunderte Zivilisten kommen zu uns mit Corona-Symptomen", berichtet ein Arzt aus der Stadt Idlib, der letzten Enklave der Rebellen im Nordwesten Syriens. "Aber wir wissen nicht, ob sie positiv oder negativ sind. Wir können sie nur nach Hause schicken."
Es kann nicht sein, was nicht sein darf
Die Bundesregierung beobachtet die Lage in Syrien mit Sorge. "Die Verbreitung von Covid-19 in der Grenzregion könnte zu einer weiteren Ursache für versuchte Flucht in Richtung der Türkei und der EU werden", heißt es in einer vertraulichen Analyse der Bundesregierung.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Mit dieser Maxime ist Assads Diktatur durchgekommen in den vergangenen neun Jahren des Kriegs gegen Teile der eigenen Bevölkerung, die einfach umdefiniert wurden zu ausländischen Dschihadisten, Söldnern ausländischer Mächte, Verrätern oder "Bazillen".
Auf die spielte Gesundheitsminister Nizar Yasidschi an, als er auf eine Frage des Staatsfernsehens nach der Angst vor dem Coronavirus antwortete: "Ich möchte sagen, dass die 'Syrische Arabische Armee' Gott sei Dank den syrischen Boden von vielen Keimen gereinigt hat." Er meinte jene Syrer, die zu Hunderttausenden umgebracht, millionenfach vertrieben wurden.
Nun aber bringt ein echter Keim die Diktatur in Bedrängnis. Assad macht dieselbe Erfahrung wie seine Verbündeten in Moskau und Teheran: Das Coronavirus lässt sich weder ignorieren noch vertuschen. Es schlägt dann nur umso heftiger zu.
Das Regime hat mittlerweile in Teilen des Landes eine Ausgangssperre zwischen sechs Uhr abends und sechs Uhr morgens verhängt und die Schulen geschlossen. Doch die Geschäfte haben geöffnet, und die Straßen sind voll. "Die Menschen stehen für Brot an. Es gibt mehr Medikamente auf dem Schwarzmarkt als in den Apotheken", klagt eine Mutter aus Damaskus.
Laut dem Strategiepapier der Bundesregierung, das dem SPIEGEL vorliegt, ist es denkbar, dass die Krise Diktator Assad "in die Hände spielt". Demnach könne der bis heute international geächtete Autokrat eine drohende Katastrophe im eigenen Land und die Angst der Europäer vor einer neuen Fluchtbewegung nutzen, "um somit eine teilweise Aufhebung der internationalen Sanktionen zu bewirken und Hilfeleistungen für die Bevölkerung einzuwerben".
Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".
Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.
Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.
Gleichzeitig brandet auf Facebook eine Woge zusehends wütender, angesichts der Risiken außerordentlich mutiger Posts und Kommentare von Syrerinnen und Syrern auf: Man werde systematisch belogen, heißt es, Lungenentzündungen oder der angebliche Selbstmord einer Krankenschwester seien höchstwahrscheinlich Corona-Tote. Die Regierung solle die Armen unterstützen, fordern sie.
Vor allem seit die Behörden gedroht haben, die Bäckereien zu schließen, wächst die Panik unter den ohnehin Verarmten, die sich angesichts rapider Inflation und Preissteigerungen fast nichts anderes mehr leisten können.
In einem Video aus Aleppo sind Dutzende Menschen zu sehen, die verzweifelt einem Brotlieferwagen hinterherrennen. Und ein Bürger aus Latakia fragt auf Facebook: "Was ist besser, zu verhungern oder an Corona zu sterben? Ich ziehe Corona vor, das geht schneller!"