Ausgangssperre in Frankreich Bonne Nuit

Von 21 bis 6 Uhr darf niemand das Haus verlassen: Die Menschen in Paris und weiteren acht Städten ringen mit den harten Eingriffen in ihr Leben. Und das Virus legt erneut die Schwächen des politischen Systems offen. 
Aus Paris berichtet Britta Sandberg
Besucher verlassen eine Bar im 11. Arrondissement in Paris

Besucher verlassen eine Bar im 11. Arrondissement in Paris

Foto: Marie Magnin / Hans Lucas / imago images

Am Morgen danach sind die Pariser schon wieder um Fassung bemüht. "Wir können das durchhalten, drei Monate auf jeden Fall", sagt der Geschäftsführer im Café Charlot an der Rue de Bretagne. Er habe die Schicht noch in der Nacht von 8 auf 20 Uhr verkürzt.

"Dann kommt Ihr halt schon um 19 Uhr zu uns zum Essen", sagt eine Freundin, "so nimmt man auch weniger zu, das ist der Vorteil." Und der Nachbar berichtet im Treppenhaus triumphierend, er habe für Freitagabend noch eine Reservierung in seinem Lieblingsbistro bekommen - für die letzte Nacht in Freiheit. 

Ab Samstag müssen die Pariser um Punkt 21 Uhr zu Hause sein, so hat es Präsident Emmanuel Macron am Mittwoch verkündet. Mindestens vier Wochen lang soll die Ausgangssperre in Paris und acht anderen französischen Städten gelten. Er sehe keine andere Möglichkeit, die durchschnittlich 20.000 Neuinfektionen pro Tag im Land wieder auf möglichst drei- bis viertausend Fälle herunterzufahren, sagte Macron am Mittwochabend in einem Fernsehinterview. Dann appellierte er an die Solidarität jedes einzelnen: "Nur gemeinsam werden wir da rauskommen." 

Die Regierung habe wirklich bis zum allerletzten Zeitpunkt mit dieser Entscheidung gewartet, berichtet der Epidemiologe Mircea Sofonea am Donnerstag in "Le Monde". Er ist Mitglied einer Gruppe von Wissenschaftlern, die schon im September verschiedene Modelle darüber erstellt hatten, wie die Ausbreitung des Virus zu stoppen sei.

Das jetzt gewählte Datum für die Verkündung der Ausgangssperre war in diesen Berechnungen als der letzte Moment angegeben worden, in dem man das Infektionsgeschehen noch effektiv eindämmen, die Katastrophe noch aufhalten könne. Im Juni hatte eine ähnlich strenge Sperrstunde im französischen Übersee-Departement Guyana zu einem Rückgang der Infektionszahlen um 36 Prozent geführt.

Vieles ist nun nicht mehr möglich: Flirts in Cafés, ausgelassene Stunden bis zum Morgengrauen

Es sieht so aus, als hätte es nicht wirklich eine Alternative zu den nun verkündeten Maßnahmen gegeben. Und trotzdem: Die staatliche Anweisung, die Pariser von 21 Uhr bis 6 Uhr morgens in ihre oft engen Wohnungen einzusperren, trifft die Bewohner dieser Stadt an einer empfindlichen Stelle. Freiwillig abends um neun Uhr schon zu Hause zu sein, das kam bisher für viele Pariserinnen und Pariser einer Zumutung, ja einer Niederlage gleich.

Denn der Abend und die Nacht waren in dieser Stadt immer auch Synonym für ein freies, selbstbestimmtes Leben. Für eine Zeit, in der, zumindest theoretisch, vieles möglich war: Flirts auf Caféterrassen, ausgelassene Stunden bis zum Morgengrauen, Begegnungen mit Wildfremden, Affären.

Die angekündigten Maßnahmen seien eine brutale Einmischung der Politik in die Intimsphäre der Franzosen, schrieb eine Kolumnistin in "Le Monde", auch deshalb habe der Präsident es wohl für nötig befunden, sie persönlich anzukündigen und diese Aufgabe nicht seinem Premier zu überlassen.

Bars, Cafés und eine Konzerthalle waren auch das Ziel der Terroristen, die am 13. November 2015 die Stadt mit Anschlägen in Angst und Schrecken versetzten und in einer einzigen Nacht 131 Menschen töteten. Mutig und trotzig demonstrierten die Pariser damals nur wenige Tage nach den Attentaten, dass sie sich dieses Leben von niemandem nehmen lassen wollen, als sie wieder die Terrassen und Restaurants der Stadt füllten. Nun stiehlt ihnen das Virus diese Freiheit. 

Und dieses klitzekleine Virus legt auch erbarmungslos die Schwächen des französischen Zentralstaates offen, der sich einen ganzen Sommer lang anscheinend nicht entscheiden konnte, was er anordnen, wie streng er sein sollte und wie viel Verantwortung er den Bürgern im Umgang mit der Pandemie überlassen wollte.

Während des 55 Tage langen Lockdowns im Frühjahr hatte sich die Regierung nicht dazu durchringen können, in einzelnen Regionen, die kaum von der Pandemie betroffen waren, die strengen Maßnahmen zu lockern. Das republikanische Prinzip der "Égalité" stand dagegen. Aber was für einen Sinn ergab es, in Departements, die keine oder nur wenige Fälle zu verzeichnen hatten, Passierscheine auszufüllen? Und war dann nicht kaum zu verhindern, dass Bürger auch in den Folgemonaten in Paris ausgegebene Regeln infrage stellen würden? 

Seit seinem Amtsantritt im Juli versuchte insbesondere der neue Premierminister Jean Castex, mehr Verantwortung auf die Bürgermeister großer Städte und die Präfekten der Regionen zu übertragen - mit nur mäßigen Erfolg. Mal wurden die Lokalpolitiker zu kurzfristig aus der Hauptstadt über anstehende Maßnahmen informiert und fühlten sich übergangen. Mal weigerten sie sich, das offensichtlich Notwendige aus eigener Initiative zu veranlassen.

"Wir haben viel zu wenig Krankenschwestern"

Die entscheidende Frage aber ist, warum es der Regierung seit Mai nicht gelungen ist, die Zahl der Intensivbetten entscheidend aufzustocken, vor allem aber für mehr Personal in den Krankenhäusern zu sorgen. "Es mangelt nicht nur an Material, es mangelt vor allem an genügend Kräften", sagte der Arzt Benjamin Rossi am Mittwochabend gegenüber dem Fernsehsender BFM. "Wir haben viel zu wenig Krankenschwestern, aber es gibt auch gar keine Bewerberinnen mehr." 

Das Pflegepersonal ist enttäuscht. Viele der Versprechungen, die Macron den "Helden der zweiten und dritten Reihe" im Frühjahr noch gemacht hatte, darunter Gehaltserhöhungen und mehr Intensivbetten, sind bisher nicht umgesetzt worden. In Paris und der Île de France werden nun erneut Operationen verschoben. Zahlreiche Ärzte aber wollen das nicht mehr mittragen und protestieren. Gewerkschaften haben erneut zu Streiks des Krankenhauspersonals aufgerufen.

Wohnungsdurchsuchungen bei Politikern: Versäumnisse in der Krise?

Zur allgemeinen Krisenstimmung passt, dass es am Donnerstagmorgen mehrere Durchsuchungen in den Büros und Wohnungen von Politikern gab, die für den Umgang mit der Pandemie verantwortlich waren oder es noch sind - darunter der ehemalige Premierminister Édouard Philippe, aber auch die ehemalige Gesundheitsministerin und ihr Nachfolger Olivier Véran.

Im Juli war nach mehreren eingereichten Klagen vom zuständigen "Cour de Justice de la République" eine gerichtliche Untersuchung eröffnet worden, die der Frage nachgehen soll, ob die verantwortlichen Politiker sich Versäumnisse im Umgang mit der Gesundheitskrise zuzuschreiben haben. Das Datum für die Aktion habe seit Langem festgestanden, hieß es nun in Paris. Es sei ein reiner Zufall, dass die Hausdurchsuchungen den Erklärungen des Präsidenten folgten - einen Tag, nachdem dieser den Parisern die Nacht gestohlen hatte.

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