Die größte Völkerwanderung der Welt ist im vollen Gange. In China sind Hunderte Millionen Menschen unterwegs, um am Sonntag das Neujahrsfest mit ihren Freunden und Familien zu feiern.
Georg Fahrion, SPIEGEL-Korrespondent in Peking:
»... und damit beginnt für viele Chinesinnen und Chinesen die schönste Zeit des Jahres. So wie Weihnachten und Thanksgiving auf einen Schlag. Zu Neujahr fährt man nämlich zu seinen Familien, besucht Freunde, isst, trinkt, dann isst man noch mehr. Und viele Chinesen haben diesen Genuss seit drei Jahren nicht mehr gehabt, weil bekanntermaßen drei Jahre lang hier die Null-Covid-Politik galt.«
Nach der abrupten Corona-Kehrtwende, von monatelanger Nulltoleranz hin zur völligen Lockerung Anfang Dezember, kann die chinesische Bevölkerung anlässlich der Feierlichkeiten wieder reisen – ohne jegliche Beschränkungen.
Li Huazhang, Malerin/Reisende:
»Wir werden das neue Jahr mit unseren Eltern verbringen, wir waren seit zwei Jahren nicht mehr zu Hause. Meine Eltern sind schon älter. Sie haben sich auch mit dem Virus angesteckt, aber jetzt geht es ihnen wieder gut. Also müssen wir zu ihnen.«
Seien es Autobahnen in Huai’an, eine Bahnhofshalle in Shanghai oder Züge, die sich am Pekinger Hauptbahnhof füllen – die Bilder aus der zweitgrößten Volksrepublik der Welt zeigen: Der Nachholbedarf ist groß. Die Behörden rechnen wieder mit so vielen Reisen wie vor der Pandemie – und das sind richtig viele.
Georg Fahrion, SPIEGEL-Korrespondent in Peking:
»In der gesamten Neujahrsphase, die offiziell vom 10. Januar bis zum 18. Februar läuft, erwartet China drei Milliarden Trips, drei Milliarden touristische Reisebewegungen innerhalb des Landes. Das bringt dieses Jahr allerdings mit sich, dass anzunehmenderweise dadurch auch Omikron noch weiter im Land verteilt wird. Es ist bekanntermaßen hier gerade eine Omikronwelle, mit der sich China konfrontiert sieht. Die wird jetzt mit den Reisenden auch in das letzte Dorf und den letzten Landstrich noch getragen werden.«
Hatten Experten zunächst nach dem Neujahrsfest einen zweiten Höhepunkt erwartet, formt sich der ohnehin schon laufende Ausbruch verstärkt durch die Reisezeit jetzt zu einer einzigen großen Welle. In China sind besonders alte Menschen nicht ausreichend geimpft, 25 Millionen sollen völlig ungeschützt sein. Moderne ausländische Impfstoffe lässt China aus politischen Gründen nicht zu.
Georg Fahrion, SPIEGEL-Korrespondent in Peking:
»Was das für Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit hat, lässt sich schlecht abwiegen. Diese abgelegenen Landstriche sind bekanntermaßen schlecht ausgestattet mit medizinischer Infrastruktur. Es gibt dort wenig Ärzte, wenig Medikamente, wenig Möglichkeiten, überhaupt auf das Virus zu testen.«
Klar ist: Die Coronalage in China ist dramatisch. Seit Anfang Dezember soll es Schätzungen zufolge schon mehr als 600.000 Tote gegeben haben. In dieser oder der nächsten Woche könnte der Höhepunkt der Infektionswelle mit 4,8 Millionen Neuinfektionen pro Tag erreicht sein.
Nachdem die Behörden fast drei Jahre lang eindringlich vor den Gefahren von Covid-19 gewarnt hatten, sprechen sie jetzt am liebsten nur noch von einer »Corona-Erkältung«. Die Regierung versucht also aktiv, die Schwere der Ansteckungswelle herunterzuspielen. Die Nachrichten von einem überlasteten Gesundheitssystem, hohen Infektionszahlen und vielen Toten sollen die Stimmung im Land möglichst nicht trüben. Es ist schließlich Neujahrsfest.