Dänemark hebt alle Coronamaßnahmen auf »Die Epidemie ist unter Kontrolle«

Touristen fahren auf einem Boot durch die Kanäle von Christianshavn in Kopenhagen: Seit Wochen fallen in Dänemark immer mehr Corona-Restriktionen
Foto: Francis Joseph Dean / Dean Pictures / IMAGO
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Magnus Heunicke kennt die Sorgen von Gastronomen und Eventmanagerinnen in der Pandemie wahrscheinlich besonders gut, nach eigenen Angaben hat er in seinem Berufsleben schon als Tellerwäscher und Bühnenbauer gearbeitet. Heute ist Heunicke Dänemarks sozialdemokratischer Gesundheitsminister – und verantwortlich für die europaweit wohl umfassendste Aufhebung von Coronabeschränkungen.
Schon jetzt dürfen die Dänen ohne Maske wieder Bahn fahren und ungetestet in Cafés sitzen. Am kommenden Freitag fallen die letzten Beschränkungen, Covid-19 gilt dann nicht länger als »für die Gesellschaft kritische Krankheit«.

Gesundheitsminister Heunicke: »Wir haben Impfraten in Rekordhöhe«
Foto: Ida Marie Odgaard / picture alliance / Ritzau ScanpixGroße Menschenansammlungen und Veranstaltungen ohne Auflagen sind ab diesem Zeitpunkt kein Problem mehr. Klubs und Fußballstadien dürfen wie früher öffnen, der »Coronapas« genannte Impfnachweis muss nirgendwo mehr vorgezeigt werden. Selbst bei steigenden Zahlen soll es nicht mehr automatisch zu neuen Einschränkungen kommen. Die Pandemie gilt in Dänemark damit faktisch als beendet.
Der Gesundheitsminister begründet diesen Schritt mit dem Erfolg der eigenen Coronapolitik. »Die Epidemie ist unter Kontrolle, wir haben Impfraten in Rekordhöhe«, verkündete Heunicke vor wenigen Tagen. Tatsächlich steht Dänemark derzeit besser da als viele andere Länder. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung im Alter über zwölf Jahren sind inzwischen doppelt geimpft. Die Infektionszahlen sind trotz der bisherigen Lockerungen nicht höher als in anderen Ländern, am Mittwoch befanden sich landesweit 21 Covid-19-Patienten auf einer Intensivstation.

Senioren in einem Café in Kopenhagen
Foto: Francis Joseph Dean / Dean Pictures / IMAGO»In Dänemark herrscht allgemeines Einvernehmen darüber, dass wir den Umgang mit Corona lockern sollten«, sagt der Epidemiologe Viggo Andreasen von der Universität Roskilde. »Da die meisten Infektionen jetzt bei Kindern und jungen Erwachsenen auftreten, hat die Schwere der Krankheit erheblich abgenommen. Deshalb ist es nicht mehr gerechtfertigt, größere Beschränkungen aufzuerlegen.«
Andreasen und seine Kollegen haben die möglichen Folgen der radikalen Öffnungspolitik bereits ausgerechnet. Für den kommenden Winter rechnen sie mit 700.000 Neuinfektionen, die zu etwa 21.000 Krankenhauseinweisungen führen. Am Ende könnten 700 Menschen daran sterben. »Diese Zahlen sind weniger dramatisch, als es klingen mag«, sagt der Gesundheitsexperte. Im schlimmsten Fall erreichten die Krankenhäuser knapp zwei Drittel der Auslastung des vergangenen Jahres. »Das Problem ist nur, dass diese Situation über Wochen anhalten wird.«
Der Freiheitsdrang ist stärker als die Angst
Tatsächlich hat das kleine Land die Pandemie erfolgreich zurückgedrängt, aus der Welt ist sie noch nicht. Schon im Juni, als die Maskenpflicht fiel, stiegen die Zahlen wieder rasch an. Bereits in den Tagen zuvor waren vielerorts kaum noch Bürger mit Maske zu sehen, wer in Kopenhagen im Nyhavn gar mit FFP2-Maske ins Café ging, erntete teils irritierte Blicke. Der Freiheitsdrang der Dänen war offensichtlich stärker als die Angst vor dem Virus.
Der dänische Weg durch die Pandemie ist ein Kompromiss aus Strenge und Vertrauen. Strikter als Schweden, lockerer und entscheidungsfreudiger als Deutschland – nicht selten waren die Dänen mit diesem Kurs Vorreiter. Im März 2020 verkündete Ministerpräsidentin Mette Frederiksen als eine der ersten Regierungschefinnen in Europa einen strikten Lockdown. Schulen, Universitäten und Kultureinrichtungen wurden geschlossen, Arbeitnehmer aufgefordert, von zu Hause zu arbeiten.
Doch spätestens in diesem Jahr ging es oft wieder um andere Themen. Diskussionen über Abschiebungen nach Syrien oder die kleine Meerjungfrau im Hafen von Kopenhagen schienen zeitweise wesentlich präsenter als die Angst vor dem Virus.

Besucher warten auf ein Konzert im Freizeitpark Tivoli – künftig muss dafür nicht einmal mehr der dänische »Coronapas« vorgezeigt werden
Foto: Torben Christensen / Ritzau Scanpix / IMAGOJetzt sieht sich das Land erneut als Coronapionier – nur in die andere Richtung. »Als wohlhabende Nation war es uns möglich, diese Situation zu überstehen, ohne dass es zur gesellschaftlichen Katastrophe kam«, sagt Lone Simonsen, wie Andreasen Epidemiologin in Roskilde. »Die Regierung hat auf Einschränkungen verzichtet, die die Dänen nicht akzeptiert hätten, wie etwa das Recht, in die Natur zu gehen. Vertrauen spielt dabei eine große Rolle.«
Bewusster Verzicht auf AstraZeneca
Zu den frühen Entscheidungen gehörte auch der Verzicht auf bestimmte Impfstoffe. Nachdem sich Hinweise auf schwere Nebenwirkungen gemehrt hatten, wurde die Verwendung der Impfstoffe von AstraZeneca und Johnson & Johnson in diesem Frühjahr ausgesetzt. Kurz darauf verzichteten die Dänen ganz auf die Vakzinen. »Ich denke, dass diese Entscheidung zu einem noch größeren Vertrauen geführt hat«, sagt Simonsen. »Die Dänen glauben, dass wir vor solchen Nebenwirkungen geschützt sind. Das schlägt sich in den hohen Impfraten der über 60-Jährigen nieder. Heute sind 96 Prozent von ihnen geimpft.«

Ministerpräsidentin Mette Frederiksen mit Experten und Kabinettsmitgliedern: zwischen Strenge und Vertrauen
Foto: Davut Colak / Anadolu / Getty ImagesDiese Zahlen sind es auch, die Gesundheitsminister Magnus Heunicke nun die Zuversicht gegeben haben dürften, das Ende der Restriktionen auszurufen. Nicht zuletzt ist der Schritt ein Kompromiss, auf den sich aktuell fast alle Parteien einigen können. In den vergangenen Monaten schwankte die Regierung, die selbst über keine Mehrheit im Parlament verfügt, immer wieder zwischen verschiedenen Strategien. Noch im März überlegte Heunicke, die Bewohner in migrantisch geprägten Vierteln zwangstesten zu lassen. Ein Vorstoß, der von den linken Partnern der Sozialdemokraten brüsk abgelehnt wurde.
Werden einzelne Kinder krank, darf der Rest dennoch kommen
Inzwischen sind es vor allem die Schülerinnen und Schüler, über die diskutiert wird. Sie sind es, die das Virus in den kommenden Monaten weiterverbreiten dürften. Der Unterricht soll im aktuellen Schuljahr wieder möglichst normal ablaufen, Tests und Schließungen sind höchstens bei größeren Ausbrüchen angedacht. Werden einzelne Kinder positiv getestet, darf der Großteil der Klasse dagegen weiter zum Unterricht.
Die Folgen dieser Politik sind den Verantwortlichen durchaus klar. »Die Leute kommen aus den Ferien heim, haben mehr Kontakte, und wir haben Schulanfang«, sagte der Direktor der dänischen Gesundheitsbehörde, Søren Brostrøm, kürzlich. »Aber wir akzeptieren die höheren Infektionszahlen.«
Die meist geringeren Auswirkungen einer Corona-Erkrankung bei Kindern sind dabei von der Regierung eingepreist, entscheidend wird aber, wo und wie oft sich Erwachsene künftig mit dem Virus anstecken. Für viele Dänen scheint es eine Vertrauensfrage zu sein, ob die Pandemie kontrollierbar geworden ist. Die ganz überwiegende Antwort darauf lautet: ja.
Laut Epidemiologin Lone Simonsen sei die Lage in Dänemark inzwischen vergleichbar mit der Schweinegrippe 2009 oder einer saisonalen Grippewelle – vor allem aufgrund der hohen Impfrate.
Ein Risiko, schiebt sie hinterher, gebe es aber doch noch. Sollte eine impfresistente Mutante auftauchen, müsse man vermutlich ganz neu über die Situation nachdenken. Für solche Fälle hat auch Gesundheitsminister Heunicke bereits Maßnahmen angekündigt, ohne konkrete Szenarien zu nennen. Simonsen glaubt, die Folgen bereits zu kennen: »Dann hilft nur noch, dass wir das Virus mit neuen Maßnahmen eindämmen und auf einen aktualisierten Impfstoff warten.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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