Kampf gegen Corona Boris Johnsons Zickzackkurs

Nun hat auch der britische Regierungschef sein Volk unter Hausarrest gestellt, obwohl Zweifel an dieser Strategie herrschen. Die Geschichte einer radikalen Wende.
Von Jörg Schindler, London
Premierminister Johnson: Kein Grund zu feiern

Premierminister Johnson: Kein Grund zu feiern

Foto: Simon Dawson/ dpa

Am vergangenen Samstag hätte Boris Johnson vermutlich gern gefeiert. Es war sein 100. Tag im Amt des Premierministers. Ein grandioser Wahlsieg im Dezember, der Brexit Ende Januar, steigende Beliebtheitswerte - genügend Gründe für Johnson, zufrieden mit sich zu sein.

Aber alles Makulatur, seit nicht mehr er, sondern ein Virus im Vereinigten Königreich den Takt vorgibt.

Zwei Tage nach seinem Amtsjubiläum saß Johnson am Montagabend, erkennbar mitgenommen, neben einer britischen Flagge in 10 Downing Street. Es war das erste Mal seit Langem, dass der Regierungschef ohne ärztliche Begleitung vor eine Kamera trat. Und was er anzukündigen hatte, das hat in Friedenszeiten noch kein britischer Premier seinem Volk zugemutet.

DER SPIEGEL

Ab sofort stehen 66 Millionen Menschen in Großbritannien und Nordirland faktisch unter Hausarrest. Nach draußen dürfen sie nur noch, um sich einmal am Tag die Beine zu vertreten oder das Allernötigste einzukaufen. Wer sich nicht fügt, riskiert eine Geldstrafe von bis zu 1000 Pfund oder gar Haft. Ausgenommen sind Arbeitende in Schlüsselberufen. Die meisten Läden im Land bleiben von jetzt an geschlossen; Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen sind wie in Deutschland verboten – mit einer Ausnahme: Beerdigungen.

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Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Es ist ein beispielloser Katalog von Freiheitsbeschränkungen, wie er europaweit in diesem März fast normal geworden ist. Was Großbritannien jedoch zum Sonderfall macht, ist das Tempo, mit dem Johnson seine ursprünglichen Pläne im Kampf gegen das Virus aufgegeben und in ihr Gegenteil verkehrt hat.

Johnson, der noch vor zwei Wochen Händewaschen für eine ausreichende Vorkehrung gegen Corona hielt, steht nun an der Spitze derer, die eine Unterdrückung des Virus mit allen verfügbaren Regierungswaffen für alternativlos halten.

Die Kritik an dieser Strategie ist leiser geworden, seit auch die Briten 335 Corona-Tote zu beklagen haben und sich Berichte über einen drohenden Kollaps des Gesundheitssystems häufen. Aber es gibt durchaus Wissenschaftler, die glauben, dass man den ursprünglichen britischen Ansatz nicht so radikal hätte vom Tisch wischen sollen.

Diesen Ansatz, dem in Europa sonst nur noch die Niederlande aufgeschlossen gegenüberstanden, verfolgte Johnson bis etwa Mitte März. Anders als viele andere Regierungen akzeptierte die britische offenbar früh, dass das Virus viele Menschen töten werde – egal, welche Maßnahmen man dagegen auch ergreifen mag.

Intern wurden zwei alternierende Konzepte diskutiert: Eine radikale Unterdrückung des Virus (suppression), indem man das öffentliche und wirtschaftliche Leben praktisch zum Stillstand bringen würde; oder eine Entschärfung (mitigation), indem man Alte und Kranke weitgehend isoliert und den Rest der Bevölkerung weitermachen lässt wie bisher. Dadurch, so die Theorie, würde sich nach und nach eine Mehrheit der Briten infizieren, aber die allermeisten überleben und so eine Herdenimmunität ausprägen.

Einer der heftigsten Befürworter dieser Strategie soll Johnsons berüchtigter Chefberater Dominic Cummings gewesen sein. Dieser habe, so schreibt die Londoner "Times", intern verkündet, das Ziel sei Herdenimmunität und der Schutz der Wirtschaft – "und wenn das bedeutet, dass einige Pensionäre sterben, dann ist es halt so". Ein Zitat, dessen Echtheit 10 Downing Street vehement bestreitet.

Coronavirus, Covid-19, Sars-CoV-2? Was die Bezeichnungen bedeuten.

Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".

Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.

Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.

Gleichwohl entschied sich die Regierung nach langen Diskussionen mit Medizinern, Virologen, Ökonomen und Verhaltensforschern zunächst für diesen Ansatz.

Mit gutem Grund, findet etwa der Epidemiologe John Ioannidis von der US-Universität Stanford. Die Daten seien unzureichend, um landesweite totale Verbote von Sozialleben zu rechtfertigen. Zumal unter Wissenschaftlern Konsens herrscht, dass es mit einer einmaligen mehrwöchigen Ausgangssperre nicht getan sein wird. Sollten die Verbote in wenigen Wochen gelockert werden und die Ansteckungszahlen wieder in die Höhe schnellen, müsste demnach ein neuer Hausarrest folgen und danach immer weitere – so lange, bis ein Medikament oder ein sicherer Impfstoff gegen das Virus gefunden ist.

Forscher des University College London rechnen mit einem Wegsperr/Aufsperr-Zyklus über 18 Monate. Ein nie dagewesenes Experiment mit Hunderten Millionen Menschen.

Die möglichen Folgen für den Einzelnen und den Staat seien unvorhersehbar, sagt Ioannidis. Sie reichten vom Kollaps des Weltwirtschaftssystems, über zivile Unruhen, Bürgerkrieg bis zur "Kernschmelze des sozialen Systems". Letztlich stünden "Milliarden, nicht nur Millionen, Menschenleben auf dem Spiel".

"Wir können das Ding in zwölf Wochen drehen"

Weil andere Wissenschaftler, wie etwa Thomas House von der Uni Manchester, mit Modellrechnungen prophezeiten, dass eine zweite Corona-Welle noch tödlicher sein werde als die erste, entschied sich Johnsons Regierung für das vermeintlich kleinere Übel: kein radikaler Lockdown des gesamten Landes, lediglich eine Isolierung der größten Risikogruppen. Die Hoffnung war, die Zahl der Toten so in einem fünfstelligen Bereich zu halten.

Von da an jedoch geriet Johnson immer stärker unter politischen Druck. Im eigenen Land holten besorgte Eltern ihre Kinder massenhaft aus den Schulen, Unternehmen ordneten großflächig Heimarbeit an oder machten dicht. Europäische Nachbarn bezeichneten das britische Vorgehen als unverantwortlich. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron drohte den Briten, alle Grenzen zu schließen.

Londoner U-Bahn: Das Virus gibt den Takt vor.

Londoner U-Bahn: Das Virus gibt den Takt vor.

Foto: Kirsty O'connor/ dpa

Dann, Mitte März, veröffentlichte das Imperial College London, unter Zuhilfenahme von Daten aus Italien, eine Prognose, wonach mehr als 250.000 Menschen in Großbritannien sterben würden, sollte die Regierung weiter ihren Mitigation-Ansatz verfolgen. Zumal der viel gerühmte Nationale Gesundheitsdienst nach einer zehnjährigen Sparorgie nicht mal ansatzweise für eine Pandemie gerüstet ist.  

Das war der Game Changer im Kampf gegen Corona. Im Angesicht einer Viertelmillion Toten wagte Johnson nicht, darauf zu beharren, dass auf lange Sicht womöglich noch mehr Leben zerstört sein könnten. Er änderte seine Strategie.

Seither konnten die Briten ihren Regierungschef dabei beobachten, wie er den Ereignissen hinterherlief und dabei immer konfuser wirkte. Er schloss Pubs, ließ Schulen aber offen. Er forderte seine Landsleute auf, sich voneinander fernzuhalten, sagte aber gleichzeitig, ein Spaziergang im Park könne nicht schaden – mit dem Ergebnis, dass noch am Wochenende Hunderttausende die Parks des Königreichs überrannten.

Und während seine medizinischen Berater die Bevölkerung auf viele Monate Ausnahmezustand vorbereiteten, sprach Johnson: "Wir können das Ding in zwölf Wochen drehen."

Am Ende wussten viele Briten schlicht nicht mehr, was genau sie tun und lassen sollen. Auch deshalb funktionierten Johnsons wiederholte Aufrufe zu freiwilliger Selbstbeschränkung nicht. Am Montag nun musste der Mann, für den persönliche Freiheit – vor allem seine eigene – von so immenser Bedeutung ist, tun, was ihm instinktiv zuwider ist: Das Land per Dekret zu schließen.

Ob diese radikale Kehrtwende den erwünschten Erfolg haben wird, werden die kommenden Wochen zeigen. Und noch länger wird es dauern, bis klar ist, ob der Zickzackkurs des Regierungschefs ihm auf Dauer schaden wird. Schon jetzt aber ist klar: Johnsons Schlachtruf aus Brexit-Zeiten – "take back control" – klingt auf der Insel in diesen Tagen seltsam hohl.

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