Einheimische auf Mallorca Insel der Hungrigen

Vanessa Priego Martos auf dem Balkon ihrer Wohnung in Port de Pollenca: Wie es für die Familie weitergeht, ist unklar
Foto: Tomeu Coll / DER SPIEGEL
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Vanessa Priego Martos sagt, sie müsse zurzeit oft weinen. Die 35-Jährige lebt mit ihrer fünfköpfigen Familie in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Port de Pollenca, ganz im Norden von Mallorca. Doch wenn sie an ihre Zukunft denke, erzählt sie, kämen ihr oft die Tränen. Vor der Pandemie arbeitete sie in einem Hotel, ihr Mann als Oberkellner. Seit Frühjahr 2020 werden sie nicht mehr gebraucht.
Zwar sind die Infektionszahlen gesunken, doch die Touristenmaschine Mallorca steht still. Besucher gibt es kaum noch. Priego Martos sagt, sie sitze mit ihrer Familie viel zu Hause, wie es weitergehen soll, sei unklar. Als Saisonkräfte hätten sie und ihr Mann sich im Winter meist arbeitslos gemeldet, im Sommer dann wieder gearbeitet. So klappte es bislang immer irgendwie. Doch wegen der jährlichen Unterbrechung im Winter bekommen sie kein Arbeitslosengeld. Bis die Grundsicherung kam, dauerte es Monate. Und sie reicht nicht.

Hilfsbedürftige warten vor der Caputxins-Kirche in Palma de Mallorca auf Essen
Foto: Clara Margais / picture alliance/dpaDie Kinder hätten bereits zu Weihnachten keine Geschenke erhalten, die kaputte Waschmaschine habe sie nicht reparieren lassen, erzählt Priego Maros. Schon das Waschmittel sei ja fast zu teuer. Sie wäscht jetzt von Hand. Damit zumindest das Essen noch reicht, geht sie seit einigen Wochen zur Tafel. So wie sie tun es inzwischen viele Mallorquiner.
Keine andere Region Spaniens wurde härter von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie getroffen als die Balearen. Nirgendwo sonst ging die Zahl der ausländischen Gäste so stark zurück.
Laut einer Studie der Universität der Balearen ist inzwischen jeder vierte Einwohner verarmt. Die Zahl der Menschen, die in existenzieller Armut leben, soll sich innerhalb eines Jahres auf etwa 34.000 verdoppelt haben. Fast jeder fünfte Baleárico war Ende vergangenen Jahres offiziell arbeitslos gemeldet. Mittlerweile sind es vermutlich noch mehr, die meisten Hotels sind weiterhin zu. Selbst der Tourismusverband hält einen Saisonstart vor Sommer für unrealistisch.

Auch Vanessa Priego Martos' Mann ist seit der Pandemie arbeitslos, inzwischen reicht das Geld nicht einmal mehr fürs Essen
Foto: Tomeu Coll / DER SPIEGELKaum eine andere Einrichtung hat die Krise so sichtbar gemacht wie die Foodbanks, die Tafeln, die es inzwischen auf der ganzen Insel gibt. Bei »Mallorca sense Fam« verdoppelte sich die Zahl der verteilten Hilfspakete im vergangenen Jahr, 6000 Hilfsbedürftige wurden gezählt. Die Caritas und andere Organisationen nennen ähnliche Zahlen. Es geht um Tonnen von Lebensmitteln, die jeden Monat verteilt werden.
Die Krise habe längst auch die Mittelschicht erfasst, erzählt Blai Vidal, seit 2009 ehrenamtlicher Vorsitzender der Hilfsorganisation Monte-Sion aus Palma. Er habe den Posten eigentlich längst abgeben wollen, doch es finde sich ja keiner, sagt der 73-Jährige. Also mache er eben weiter.
Seine Organisation musste die Lebensmittelverteilung kürzlich auf einen Sportplatz verlegen, die alten Räume reichten nicht mehr aus. In den vergangenen zwei Wochen seien jeweils 350 bis 400 Familien gekommen. Etwa 20 Kilo Vorräte bekomme jede von ihnen, rechnet Vidal vor. Reis, Zucker, Thunfisch. Dazu vier Kilo Kartoffeln, zwei Netze Orangen und ein paar Auberginen, manchmal auch Fleisch. Etwa 1500 Kinder unter zwölf Jahren würden so Woche vor Woche versorgt, zusätzlich verteile man auch Kleidung.
Die Krise offenbart, wie abhängig die Insel vom Tourismus ist und wie dünn die Reserven vieler Familien sind. Helfer erzählen von Frauen, die Windeln mitnahmen, obwohl sie doch keine kleinen Kinder zu Hause hätten – sie würden sie zerschneiden, um daraus Binden für sich selbst zu basteln. Für Hygieneartikel fehlt ihnen das Geld. Oder von Familien, die Kartoffeln nicht kochen können, weil sie kein Gas mehr haben. Regelmäßig berichten derzeit lokale Medien von Zwangsräumungen, weil Mieten nicht gezahlt werden konnten. Die Menschen ziehen zu Freunden oder landen im Obdachlosenheim. Längst können nicht mehr allen Bedürftigen Sozialwohnungen angeboten werden.
Seit der Finanzkrise vor rund zehn Jahren sei die Armut gestiegen, dass es aber einmal so weit kommen würde, habe er nicht für möglich gehalten, sagt Blai Vidal.
Nicht wenige der Bedürftigen kamen in den vergangenen Jahren vom Festland auf die Insel, darunter auch viele Migranten aus Südamerika oder Afrika. »Die Leute denken, Mallorca wäre das Paradies«, erzählt Vidal. »Alle meinen, wegen der Touristen könne es hier jeder schaffen. Aber das stimmt nicht mehr.«
Wie sich die Krise auch außerhalb der Touristenhochburgen entwickelt hat, lässt sich jeden Montag, Mittwoch und Freitag vor dem Gemeindezentrum von Santanyí, etwa 50 Kilometer östlich von Palma, beobachten. Wenn die Helferinnen von »Hope« um kurz vor zehn auf den Parkplatz fahren, stünden die Hilfesuchenden oft schon eine Stunde an, erzählen sie. Anfangs hätten manche bereits um halb neun dort gewartet. Zu groß war offenbar die Angst, nichts mehr zu bekommen.
Auch Apollonia Barceló Riera steht hier an. Vor der Pandemie arbeitete sie mit ihrer Mutter in einem Chiringuito, einem Strandlokal in der Cala Mondragó, einer idyllischen Bucht im Südosten der Insel. Fast das ganze Jahr hätten sie hier früher Eis, Mojitos und Daiquiris verkauft, erzählt die 24-Jährige. Auch in der Nebensaison. »Wir hatten ein gutes Leben, ich konnte immer etwas zur Seite legen.« Davon ist nur noch wenig übrig, seit September ist der Strand wieder leer, das Lokal geschlossen.
Seitdem hält sich Apollonia Barceló Riera mit Gelegenheitsjobs als Babysitterin und Putzkraft über Wasser. Die beiden Frauen leben in einem alten Landhaus mit braunem Putz, ringsherum gibt es nicht viel. Ihre Mutter arbeitet sechs Tage die Woche auf einer Finca, doch es reicht nicht. »Wir wissen am Monatsende kaum, wie wir über die Runden kommen sollen«, klagt ihre Tochter.
Die Krise trifft fast alle, aber besonders die Jungen. 41 Prozent der unter 25-Jährigen waren im vierten Quartal 2020 arbeitslos gemeldet. Bei den unter 20-Jährigen waren es sogar rund 69 Prozent. Ein normaler Start ins Berufsleben ist für viele junge Spanier kaum noch vorstellbar.

Freiwillige der Hilfsorganisation »Hope« verteilen Lebensmittel in Santanyí, im Südosten der Insel
Foto: Andrea MelcherNur mit der Grundsicherung von etwa 500 Euro ließen sich die ortsüblichen Mieten kaum bezahlen, sagen viele. Bevor sie die Wohnung verlieren, sparen viele Familien lieber am Essen. Autos werden abgemeldet, zu manchen Tafeln kämen die Bedürftigen mit Fahrrädern aus den Nachbarorten, erzählen Helfer. Auch Heimke Mansfeld kennt das Phänomen. Seit zwei Jahrzehnten lebt sie auf der Insel, sie ist mit einem Mallorquiner verheiratet, die gemeinsamen Kinder sprechen Spanisch.
»Wir sitzen hier fest«, sagt Mansfeld und meint damit die Stimmung unter den Einheimischen. Ihr selbst geht es noch gut, zusammen mit zwei anderen Deutschen hat sie »Hope« gegründet, eine der Hilfsorganisationen, die jetzt Lebensmittel verteilen. Die Krise sei für sie als Deutsche auch eine Chance, den Menschen auf der Insel etwas zurückzugeben, findet Mansfeld. Sie werben auch um Spenden aus Deutschland, inzwischen gibt es sechs Verteilstationen, die siebte soll bald eröffnen. Sie tun viel, doch gegen die Abhängigkeit vom Tourismus hilft das wenig, weiß die 54-Jährige: »Niemand auf der Welt braucht zur Zeit Reinigungskräfte oder Barkeeper.«

Vanessa Priego Martos hofft, dass der Tourimus ihre Familie noch einmal retten kann. Wer komme, sei letztlich egal
Foto: Tomeu Coll / DER SPIEGELMieten und Immobilienpreise stiegen in den vergangenen Jahren immer weiter an. Viele Einheimische können ihre Mieten nicht mehr zahlen. Auch Vanessa Priego Martos und ihrem Mann geht es so. Schon seit Juli können sie nach eigenen Angaben die Raten für die bescheidene Zweizimmerwohnung nicht mehr begleichen, die seine Eltern gekauft hatten. Eigentlich wollten sie die Wohnung mit ihrem Einkommen aus dem Tourismus abzahlen.
Mitte März stehe jetzt ein Gerichtstermin an, sagt Vanessa Priego Martos, es gehe um die Zwangsräumung. An vielen Tagen könne sie sich kaum noch motivieren rauszugehen, erzählt sie, zum Einschlafen brauche sie oft eine Schlaftablette, manchmal auch zwei.
Was ihr für die kommenden Monate noch etwas Hoffnung gebe, sei die vage Chance, dass es vielleicht doch noch klappen könnte mit der Saison. Ob Deutsche, Engländer oder Russen kämen, sei letztlich doch egal, findet Priego Martos. Hauptsache, es komme überhaupt jemand.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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