Coronavirus in Mexiko Die große Verdrängung

Friedhofsmitarbeiter mit Schutzanzug in Nezahualcóyotl: Die Pandemie hat Mexiko fest im Griff
Foto: Quetzalli Blanco/ dpaWann wird Mexiko das Schlimmste hinter sich haben? Seit Monaten revidieren die Verantwortlichen ihre Prognosen. Der Ausbruch würde im April seinen Höhepunkt erreichen, sagte die Regierung Ende März voraus. Wenige Wochen später hieß es: Mitte Mai. Dann Ende Mai, schließlich Ende Juni.
Derzeit versichern die Verantwortlichen, dass sich die Pandemie "verlangsame". Doch die Zahlen steigen weiter. Fest steht jedenfalls: Das Ende der ersten Infektionswelle ist noch weit entfernt. Bei den Fallzahlen meldete das Land in den vergangenen 24 Stunden einen Höchstwert.
Frühe Zweifel an den offiziellen Zahlen - wohl zu Recht
Mexiko verzeichnet inzwischen fast 32.800 Tote. Zuletzt überholte es Spanien und Frankreich in der globalen Corona-Todesstatistik, wo es nun auf Platz fünf liegt. Täglich kommen Hunderte Opfer dazu. Mexiko verzeichnete im Juni gleich zweimal mehr als tausend Tote binnen 24 Stunden - als eines von wenigen Ländern weltweit. Und das sind nur die offiziellen Zahlen.
An diesen gab es früh Zweifel - wohl zu Recht, wie sich zeigt. Die erste von der Regierung in Auftrag gegebene detaillierte Studie über Covid-19-bedingte Todesfälle ist laut einem Bericht der "Washington Post" fertig. Hugo López-Gatell, der den Kampf der Regierung gegen das Virus anführt, sprach mit der US-Zeitung vorab über das Ergebnis. Demnach gab es in Mexiko-Stadt, dem Epizentrum des Landes, zwischen März und Mai rund dreimal so viele Tote wie gewöhnlich.
In der Studie zur Übersterblichkeit wurden laut López-Gatell nicht nur Covid-Todesfälle erfasst, sondern auch solche mit anderen Ursachen, darunter auch die Fälle von Verstorbenen, die wegen der Überlastung von Krankenhäusern nicht behandelt werden konnten. Es sei aber wahrscheinlich, dass es sich mehrheitlich um Corona-Opfer handele.
Bluthochdruck, Diabetes und andere chronische Krankheiten
Warum trifft die Pandemie das Land so hart? Experten verweisen auf eine Reihe von Faktoren - auch wenn umstritten ist, wie viel jeder einzelne davon zur Krise beiträgt:
In Mexiko sind Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Fettleibigkeit besonders verbreitet. Bei vier von fünf Corona-Toten soll es eine Verbindung zu chronischen Krankheiten dieser Art gegeben haben.
Das Gesundheitssystem im Land ist unterfinanziert. Vielerorts fehlt es an medizinischem Personal.
Ein großer Teil der Beschäftigten, laut OECD rund 60 Prozent, ist im informellen Sektor tätig. Tagelöhner und Straßenverkäufer leben von Woche zu Woche, manche von Tag zu Tag. Ein strikter umfassender Lockdown wie in Frankreich, Italien oder Spanien war in Mexiko deshalb von vornherein unrealistisch.
Obwohl das Ausmaß der Tragödie immer sichtbarer wird, streiten manche Mexikaner noch immer ab, dass das Virus überhaupt existiert. Sie ignorieren Verhaltensregeln und wittern die wildesten Verschwörungen. Nahe Mexiko-Stadt stürmten Verwandte von Verstorbenen ein Krankenhaus. Sie behaupteten, dass es das Virus nicht gebe und beschuldigten Ärzte, ihre Angehörigen getötet zu haben. Im Bundesstaat Puebla griff eine Familie Beamte an, die sie aufgefordert hatten, Masken zu tragen.

Demonstranten umstellen das Auto von López Obrador: Die Wut auf den Präsidenten wächst
Foto: YAHIR CEBALLOS/ REUTERSIn einem Interview mit der Nachrichtenseite "Aristegui News" führte der Historiker Lorenzo Meyer diese Haltung auf eine im Land seit Jahrhunderten verbreitete Skepsis gegenüber jeder staatlichen Autorität zurück. Der Corona-Beauftragte López-Gatell klagt hingegen über Desinformation: Es sei erstaunlich, dass zutreffende Informationen noch immer nicht jeden erreichten und dass es noch immer Menschen gebe, die die Epidemie nicht für eine ernste Sache hielten, sagte er jüngst bei einem seiner nächtlichen Fernsehauftritte.
Andere machen vor allem einen für die große Verdrängung verantwortlich: Staatspräsident Andrés Manuel López Obrador, genannt Amlo. Dieser spielte die Gefahr lange herunter, verteilte Umarmungen und Küsse an seine Anhänger und empfahl Mexikanern anfänglich, weiter Restaurants zu besuchen. Bis heute trägt der Linkspopulist keine Maske, obwohl er selbst zur Risikogruppe gehört. Jüngst gab er bekannt, dass er sich nie einem Test unterzogen habe - obwohl sich bereits mehrere hohe Regierungsbeamte mit dem Virus ansteckten.
Mit Fortschreiten der Krise gerät López Obrador immer mehr in die Kritik. Erfreute er sich zu Beginn seiner Amtszeit vor gut eineinhalb Jahren astronomischer Beliebtheitswerte, sanken diese laut einer Umfrage der Demoskopen von Consulta Mitofsky jüngst auf einen Tiefpunkt. In einem polarisierten Land stehen denjenigen, die die Existenz des Virus leugnen, Menschen gegenüber, deren Wut auf die Regierung wegen ihres Umgangs mit der Pandemie wächst.