Coronavirus in Nigeria "Wir sind noch am Anfang"

Nigeria galt als Vorzeigebeispiel in der Corona-Prävention. Nun wird dort einer der schlimmsten Ausbrüche Afrikas vermutet. Die Rede ist von vielen Toten - entgegen den offiziellen Fallzahlen.
Temperaturmessung am Flughafen während der Ebola-Epidemie 2014: Die Erfahrungen von damals ließen Nigeria als gut vorbereitet auf das Coronavirus erscheinen - zunächst

Temperaturmessung am Flughafen während der Ebola-Epidemie 2014: Die Erfahrungen von damals ließen Nigeria als gut vorbereitet auf das Coronavirus erscheinen - zunächst

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AFOLABI SOTUNDE/ REUTERS

Globale Gesellschaft

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Gibt es vielleicht viel mehr Infektionen und auch Tote als bislang bekannt? Diese Frage kann sich leicht stellen, wer die Coronavirus-Entwicklung in Afrika beobachtet. Lange stiegen die Fallzahlen nur langsam an. Vor Kurzem verdoppelten sie sich innerhalb vom 18 Tagen von 100.000 auf 200.000. Am 23. Juni waren auf dem gesamten Kontinent 315.380 Corona-Fälle und 8339 Verstorbene registriert. Das tatsächliche Ausmaß der Pandemie ist aber schwer einzuschätzen. Manche Regierungen scheinen falsche Fallzahlen anzugeben, andere Länder haben kaum Testmöglichkeiten.

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist es sicher , dass sich Covid-19 in Afrika rasant verbreitet. Experten warnen davor, dass der Kontinent besonders hart getroffen werden könnte. Laut einer Modellrechnung, die die WHO im Mai veröffentlichte, könnten sich im ersten Jahr seit Ausbruch 29 bis 44 Millionen Menschen in Afrika infizieren.

Vermehrt gibt es nun auch Berichte über Tote, die in einigen Ländern nicht gezählt oder heimlich begraben worden sein sollen. Über Ärzte und Krankenhäuser am Limit. Eines dieser Länder ist Nigeria. Das ist besonders verwunderlich, weil der westafrikanische Staat lange zu den am besten vorbereiteten im Kampf gegen Corona zählte.

Schon früh wurden in Nigeria Covid-19-Isolations- und Behandlungszentren aufgebaut, wie hier in Kano am 7. April 2020. Im Mai klagten die ersten Krankenhäuser über Überlastung

Schon früh wurden in Nigeria Covid-19-Isolations- und Behandlungszentren aufgebaut, wie hier in Kano am 7. April 2020. Im Mai klagten die ersten Krankenhäuser über Überlastung

Foto: AMINU ABUBAKAR/ AFP

In Nigeria war der erste Mensch in Subsahara-Afrika positiv auf das Coronavirus getestet worden. Ein Italiener, am 27. Februar. Die nigerianischen Behörden nahmen schnell Kontakt zu rund hundert Personen auf, die ihm möglicherweise nahegekommen waren. Temidayo Fawole, die nationale Leiterin des Covid-19-Teams im Nigeria Center for Disease Control (NCDC), erklärte damals, dass sich das Land seit gut einem Monat auf genau diese Ernstsituation vorbereitet habe.

Notfallpläne wurden erarbeitet, Testlabore eingerichtet, Isolations- und Behandlungszentren aufgebaut. Ab dem 23. April durfte im Land keiner mehr reisen und es gab eine Ausgangssperre in der Nacht. Bars und Restaurants wurden geschlossen, Gottesdienste verboten.

Nigeria galt auch deshalb als besonders gut gegen eine mögliche Ausbreitung des Coronavirus aufgestellt, weil das Land bereits 2014 der Ebola-Epidemie standgehalten hatte. Der bevölkerungsstärkste Staat des Kontinents mit mehr als 200 Millionen Einwohnern konnte damals durch gut vorbereitete Diagnose- und Quarantänemaßnahmen eine Ausbreitung der Viruserkrankung verhindern.

Ungewöhnlicher Anstieg an Toten

Doch nun soll insbesondere im Bundesstaat Kano und der gleichnamigen Metropole im Norden des Landes das Coronavirus wüten . Nigeria, noch vor wenigen Wochen ein Musterbeispiel in der Covid-19-Prävention und heute ein Beispiel dafür, wie die Pandemie sich nahezu unbemerkt verbreitet. Wie kann das sein? Ein Blick dorthin lohnt, um zu verstehen, warum die noch immer im internationalen Vergleich geringen Fallzahlen in Afrika kein Grund zur Beruhigung sind.

Offiziell gibt es Mitte Juni in Kano 1190 registrierte Infektionen und 50 Todesfälle. Bereits im Mai sollen jedoch laut Medienberichten und den Angaben von Totengräbern ungewöhnlich viele Menschen gestorben sein. Mehr als 800 Ärzte und medizinische Fachkräfte sollen mit Covid-19 infiziert gewesen sein, nur noch wenige Krankenhäuser Patienten aufgenommen haben.

Die Regierung gab an, der ungewöhnliche Anstieg an Toten sei nicht auf das Coronavirus, sondern auf andere Krankheiten wie Diabetes, Meningitis und Malaria zurückzuführen. Das kann stimmen. Es werden Millionen Tote befürchtet, die in den kommenden Monaten und Jahren nicht am Coronavirus, sondern als dessen Folge an anderen, eigentlich behandelbaren Erkrankungen sterben würden.

Es muss aber nicht stimmen. Experten im Land werfen der Regierung vor, das wahre Ausmaß der Pandemie zu verleugnen. Ein Großteil der Patienten in den Krankenhäusern hätte eindeutige Corona-Symptome gehabt.

"Die Menschen hatten Angst ins Krankenhaus zu kommen, im Krankenhaus hatte man Angst vor den Patienten"

Bashir Usman

"Die Regierung versucht, die Menschen zu überzeugen, mit leichten Symptomen nicht mehr ins Krankenhaus zu gehen", sagt Bashir Usman am Telefon. Der Mediziner arbeitet im Aminu Kano Teachings Hospital, dem größten Krankenhaus der Stadt. Er hatte selbst Corona und bestätigt, dass viele seiner Kollegen infiziert waren und es auch noch sind. "Ich kann nicht sagen, wie viele Fälle und Tote es wirklich gibt", sagt Usman. "Am Anfang herrschte auf allen Seiten Panik. Die Menschen hatten Angst, ins Krankenhaus zu kommen, im Krankenhaus hatte man Angst vor den Patienten. Das hat sich beruhigt, aber das System ist immer noch überlastet."

Es mangele an Equipment und vor allem auch Fachkräften. "Selbst wenn wir 1000 Beatmungsgeräte hätten, könnten wir damit nichts anfangen", sagt Usman. Jemand muss sie ja bedienen, und dafür sind viele nicht ausgebildet. "Und die Zahlen gehen weiter nach oben."

Fehlende Schutzkleidung, kaum finanzielle Mittel und Fachkräfte

Am 22. Juni wurde ein einwöchiger Streik  der National Association of Resident Doctors (NARD), einer Ärztevereinigung, die gut 40 Prozent der nigerianischen Mediziner vertritt, beendet. Viele Mediziner in staatlichen Krankenhäusern hatten ihre Arbeit niedergelegt, um unter anderem auf den Mangel an Schutzkleidung und Vergütungskürzungen aufmerksam zu machen, während sie immer mehr Corona-Patienten behandeln mussten. NARD gab an, den Streik zu unterbrechen, damit die Regierung Zeit habe, den Forderungen nachzukommen.

"Schon jetzt bekommen Angestellte im Gesundheitssystem kein volles Gehalt mehr, weil die Wirtschaft leidet, weil der Ölexport leidet, weil die Einnahmen des Staates leiden. Es gibt nicht genug Geld", sagt Sanus Bala am Telefon. Er ist Vorsitzender der Kano Niederlassung der Nigeria Medical Association, dem Berufsverband für nigerianische Ärzte. Er sagt: "Wenn die streiken, eskaliert die Situation. Das Gesundheitssystem wird kollabieren."

Desinfektionsmittel wurden in Nigeria nach Ausbruch der Pandemie teuer und knapp. Viele Menschen glauben aber auch nicht, dass das Coronavirus existiert, und halten sich nicht an die empfohlenen Präventionsmaßnahmen

Desinfektionsmittel wurden in Nigeria nach Ausbruch der Pandemie teuer und knapp. Viele Menschen glauben aber auch nicht, dass das Coronavirus existiert, und halten sich nicht an die empfohlenen Präventionsmaßnahmen

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PIUS UTOMI EKPEI/ AFP

Einige scheinen jedoch eine Beruhigung der Lage zu erleben. "Vor Covid haben wir hier drei bis vier Menschen am Tag beerdigt", sagt Salisu Musa Gariyan. Er ist Totengräber auf dem Dandolo-Friedhof, einer von insgesamt zehn Ruhestätten in Kano. "Vor einem Monat haben wir bis zu 30 bis 40 Gräber jeden Tag ausgehoben hier auf dem Friedhof. Einige von uns sind krank geworden, weil es zu viel Arbeit war. Nun hat sich die Lage etwas gebessert, und es sind um die zehn Verstorbene am Tag."

Auch einige Krankenhäuser sollen derzeit nicht so überlastet wie noch vor wenigen Wochen sein. Ob das tatsächlich auf einen Rückgang der Infektionen schließen lassen kann, ist aber fraglich. "Ich kann nicht sagen, dass der Ausbruch unter Kontrolle ist. Wir wissen nicht, was in den Dörfern passiert", sagt Sanus Bala. "Viele haben Angst vor Stigmatisierung. Sie trauen sich nicht, mit der Krankheit in die Öffentlichkeit zu treten."

Wer Covid-19-Symptome hat, geht in Nigeria nicht zwangsläufig ins Krankenhaus und erzählt vielleicht nicht mal seiner Familie davon. "Unser größtes Problem hier ist: Keiner will der sein, der das Coronavirus in sein Dorf geschleppt hat", warnte David Ajikobi bereits zu Beginn der Pandemie. Der 37-jährige Journalist arbeitet in Nigeria für Africa Check , eine Website, die kontinuierlich Fake News aufdeckt. "Dann wird das Dorf nämlich extrem schnell wütend und schickt dich fort. Viele mit Covid-19-Symptomen melden sich auch deshalb nicht bei den Notfallstellen, sondern folgen lieber obskuren Behandlungsempfehlungen, die sie irgendwo gesehen oder gehört haben." Temidayo Fawole vom NCDC schätzt Desinformation und Fake News als besonders bedrohlich in Nigeria ein.

Teile der Bevölkerung glauben nicht an die Infektionskrankheit. Sei es zum Beispiel aus religiösen Gründen, Mangel an Bildung oder an Vertrauen in die Regierung. Als Folge nehmen viele Menschen empfohlene Maßnahmen wie Abstandhalten, Selbstisolation und regelmäßiges Händewaschen nicht an.

Covid-19-Tote werden so nicht zwangsläufig registriert. Und versterben sie auf dem Land, kommen sie auch nicht auf den Friedhof, auf dem Salisu Musa Gariyan arbeitet. Die Dunkelziffer in ländlichen Regionen ist in vielen afrikanischen Ländern kaum abzuschätzen. Dort wird kaum getestet.

"Die Überwachung der Sterblichkeit ist schwach in Afrika", sagt John Nkengasong, der Direktor des Africa Centres for Disease Control and Prevention (CDC) bei einer Pressekonferenz am 18. Juni, als es um die vermeintlich nicht registrierten Corona-Toten auf dem Kontinent geht. "Nun, wo die Pandemie fortschreitet, müssen wir darauf den Fokus legen. Ohne diese Daten können wir die Pandemie nicht bekämpfen."

Das Hauptproblem der fehlenden Tests ist ebenfalls etwas, das alle Gesprächspartner in Nigeria erwähnen. "Wir sind noch am Anfang. Es geht weiter nach oben. Man kann noch nicht sagen, ob wir es unter Kontrolle haben", sagt Bashir Usman. "Es muss viel mehr getestet werden." 

Dabei wird in dem westafrikanischen Land schon mehr getestet als auf einem Großteil des Kontinents. 80 Prozent der gut 3,7 Millionen Testergebnisse, die bislang aus 54 Ländern beim CDC gemeldet wurden, stammen aus nur zehn Staaten. Darunter Südafrika mit der größten absoluten Zahl bekannter Fälle, sowie Marokko, Ägypten, Äthiopien, Mauritius, Kenia, Ruanda - und Nigeria.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hieß es, Nigeria habe 200.000 Millionen Einwohner. Wir haben die Stelle korrigiert.

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