Pandemie in Peru "Es ist unmöglich, die Corona-Regeln zu befolgen"

Segnet die Toten: der Erzbischof von Lima
Foto: Sebastian Castaneda/ REUTERSAls der Erzbischof einzieht in die Kathedrale von Lima, schwenkt er das Weihrauchgefäß hin zu den Bildern der Toten. Mehr als 5000 ausgedruckte Fotos haben Monseñor Carlos Castillo und seine Leute auf die Sitzbänke, Säulen und Wände geklebt: zur Gedächtnismesse für die peruanischen Opfer des Coronavirus.
Castillo, so zeigen es Videos im Internet, schreitet an den Reihen vorbei, die Maske vor Mund und Nase. Er segnet Bilder von Liebespaaren, jungen Frauen, alten Männern, Kindern. Fernando und Rafael, Angélica, Héctor, Carmen Rosa. Und als er am Altar steht, wird der Erzbischof politisch: Ein "Krankheitssystem" sei Perus Gesundheitssystem, predigt Castillo, "denn es basiert auf Egoismus und Geschäft, nicht auf Barmherzigkeit und Solidarität mit den Menschen."
Peru wird zum Inbegriff der Schwellenländer, die das Coronavirus nicht unter Kontrolle bekommen - trotz harter Notstandsregeln. Der Andenstaat mit seinen 32 Millionen Einwohnern liegt auf Platz sechs der weltweiten Corona-Statistik; mit mehr als einer Viertelmillion Fällen hat Peru zuletzt Spanien sowie Italien überholt. Medienberichten zufolge reichten die Intensivbetten und die Beatmungsplätze schon vor Wochen nicht mehr aus.

Abschied
Foto: Raul Sifuentes/ Getty ImagesDabei hatte Präsident Martín Vizcarra schon Mitte März einen Lockdown verhängt - früher und strikter als die meisten anderen Staaten in Lateinamerika. Die Bürger sollten ihre Häuser nur für dringend nötige Lebensmitteleinkäufe verlassen dürfen. Doch die Ausgangssperren wirkten nur kurzzeitig. Weil sie nicht zur peruanischen Lebensrealität passen.
Bis zur Pandemie galt Peru mit seinem dynamischen Wachstum als ein ökonomisches Musterland in der Region. Aber: "Der Boom hat vor allem die Eliten noch reicher gemacht; für die Armen bleiben nur Brotkrumen übrig", sagt Limas Erzbischof Castillo im Videotelefonat mit dem SPIEGEL. Und: "Um diese Brotkrumen aufzusammeln, müssen die Menschen hinaus auf die Straße." Trotz Lockdown.
"Wenn mir die Kunden zu nahe kommen, sage ich immer: 'Halten Sie bitte Abstand'", erzählt Luz Marina Huarca am Telefon. "Auf Märkten gibt es viele Infektionen." Aber alle Wochenenden wieder muss die Studentin arbeiten gehen auf einen Markt in Arequipa im Süden Perus. Fleisch verkaufen, Geld verdienen für ihren Lebensunterhalt.
Die Märkte sind wieder voll mit Menschen. Obwohl sie als Virenschleudern berüchtigt sind: Bei Stichproben in der Hauptstadt Lima wurden Mitte Mai rund die Hälfte aller Verkäufer positiv getestet. "In den ersten Wochen nach dem Lockdown waren viele Märkte geschlossen und die Stadtzentren waren teilweise gespenstisch leer", erzählt Matthias Kullen. Der deutsche Missionar des baden-württembergischen Hilfswerks DMG lebt seit Jahren in Peru. "Aber jetzt habe ich den Eindruck, dass mehr Leute in den öffentlichen Bussen und auf den Straßen sind als vor der Corona-Zeit."
Sie haben keine Wahl. "Für viele arme Menschen ist es unmöglich, die Corona-Regeln zu befolgen", sagt Hugo Ñopo, Ökonom der Entwicklungsorganisation GRADE. "Unsere Regierung hat viele europäische Maßnahmen kopiert. Aber hier ist es anders als in Europa." So habe nur die Hälfte aller Peruaner im Haushalt einen Kühlschrank; die übrigen müssten ständig hinaus, um sich frische Lebensmittel zu beschaffen. Millionen Menschen haben nicht einmal Zugang zu fließendem Wasser, um sich die Hände zu waschen. Und nur gut ein Drittel aller Haushalte habe Internetzugang, berichtet Ñopo.
Fast drei Viertel der Beschäftigten arbeiten im informellen Sektor. "Die meisten Peruaner können nicht wie in Deutschland vom Homeoffice aus arbeiten", sagt Ñopo. "Sie müssen hinaus in die Stadt, um Geschäfte zu machen, von Angesicht zu Angesicht."
In den kommenden Wochen sollen die Quarantänemaßnahmen gelockert werden. Reisen innerhalb des Landes etwa sollen dann wieder offiziell erlaubt sein. "Wir werden mehr Ansteckungen sehen", erwartet Luz Marina Huarca.
Menschen wie sie können nur hoffen, dass das Virus sie nicht erwischt - oder zumindest nicht schlimm. Denn das öffentliche Gesundheitssystem galt schon vor der Pandemie als unterfinanziert und überlastet. "Es gibt in Peru große, gute Kliniken, aber nur die Eliten können sie bezahlen", sagt Carlos Castillo, der Erzbischof. Die Regierung müsse das System ändern - so schnell und so grundlegend wie möglich.
Trotz der Krise habe er noch Hoffnung, sagt der Monseñor. Die Bilder seiner Totenmesse - für die ihm die Angehörigen Tausende Fotos ihrer Liebsten geschickt haben - sind viral gegangen. Millionen Peruaner haben seinen Aufruf zur Solidarität mitbekommen. "Wir müssen uns organisieren und den Schwächsten unter uns helfen", fordert Castillo. Wenn Perus Gesellschaft zusammenhalte, könne sie das Virus eindämmen.