Fehlender Sauerstoff für Covid-19-Patienten Albtraum in den Anden

Für Covid-19-Patienten ist die Lage in Peru dramatisch: Es gibt kaum Intensivbetten und vor allem Sauerstoff ist knapp. Hier berichtet eine Peruanerin, wie sie von Deutschland aus um das Leben ihres Vaters kämpfte.
Von Jens Glüsing, Rio de Janeiro
Beisetzung eines Corona-Opfers in Arequipa

Beisetzung eines Corona-Opfers in Arequipa

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JOSE SOTOMAYOR JIMENEZ/ AFP

Es war ein Wettrennen mit der Zeit, und das Schlimmste war dieser verflixte Feiertag. Perus Tag der Unabhängigkeit, der 28. Juli, ein Dienstag. Yovana Valencias Vater war an Covid-19 erkrankt, und er brauchte dringend Sauerstoff. Doch wegen des Feiertags waren alle Geschäfte geschlossen.

Vor einigen Wochen war bereits einer ihrer Brüder an diesem verdammten Virus gestorben, er war Metzger auf einem Markt in Lima. Märkte gelten in Peru als besonders risikoreich, dort hatte er sich vermutlich angesteckt. "Er konnte nicht länger zu Hause bleiben", sagt Valencia. "Er hatte eine große Familie zu ernähren."

Jetzt waren sie noch sechs Geschwister, fünf in Peru und Yovana in Deutschland. Sie ist studierte Ingenieurin, gerade macht sie eine Fortbildung bei SAP, zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Kind lebt sie in Mannheim. Doch seit Tagen war sie in Gedanken bei ihrem Vater in Arequipa, ihrer Geburtsstadt im Süden Perus. Jeden Tag hing sie am Telefon und versuchte, eine Sauerstoffflasche für ihn aufzutreiben.

Sauerstoff ist rar in Arequipa. Morgens um drei, wenn es noch dunkel ist, stehen die ersten Leute in der eisigen Kälte vor der Firma an, die die Flaschen füllt. Knapp 500 Euro kostet eine Füllung, die Flasche muss man mitbringen, sie kostet auf dem Schwarzmarkt umgerechnet 1.500 Euro pro Stück. Eine Flasche reicht für zwei Tage.

Zwei Firmen dominieren den Markt für medizinischen Sauerstoff in Peru, Linde aus Deutschland und Air Products aus den USA. Doch die Produktion reicht nicht aus. Normalerweise werden im Land 60 Tonnen täglich konsumiert, während der Pandemie habe sich der Bedarf verfünffacht, so Gesundheitsminister Victor Zamora. Die Regierung hat deshalb beschlossen, eine eigene Fabrik zu errichten, doch bis dahin werden Wochen oder Monate vergehen. Unterdessen blüht der Schwarzmarkt.

Warten auf den überlebenswichtigen Sauerstoff: Angehörige von Corona-Patienten warten mit leeren Flaschen auf frischen Sauerstoff

Warten auf den überlebenswichtigen Sauerstoff: Angehörige von Corona-Patienten warten mit leeren Flaschen auf frischen Sauerstoff

Foto: Diego Ramos/ AFP

Selbst in den Krankenhäusern ist Sauerstoff knapp. "Zuerst werden die jüngeren Patienten versorgt", sagt Valencia. Es gibt statistisch gesehen 2,3 Intensivbetten für 100 000 Einwohner, weit weniger als von den Vereinten Nationen empfohlen. "In der jetzigen Situation müssen wir umfassend bewerten, welcher Patient in kritischem Zustand potenziell heilbar ist und welcher eher nicht", sagte Jesús Valverde, Präsident der peruanischen Gesellschaft für Intensivmedizin, der Deutschen Welle. Valencias Vater war 80.

Die Menschen können sich die Isolierung nicht leisten

Eigentlich hatten sie das Virus gut im Griff in Peru, bereits im März hatte Präsident Martín Vizcarra einen strengen Lockdown verhängt, eine der härtesten Quarantänen Lateinamerikas. Doch nach einigen Wochen wuchs der Druck, die Restriktionen zu lockern. Die meisten Peruaner sind arm, sie müssen raus zum Arbeiten, ins Büro, aufs Feld, auf die Straße oder auf den Markt, so wie Valencias Bruder.

Ende Juni hob die Regierung den Lockdown schrittweise auf, obwohl die Zahlen drastisch stiegen. 433.100 Fälle meldete das Gesundheitsministerium am Dienstag, 4250 mehr als am Vortag. 19.811 Menschen sind an Covid-19 gestorben, 197 mehr als am Vortag. Heute liegt Peru bei den Coronatoten in Südamerika nach Brasilien an zweiter Stelle. Arequipa ist eine der am stärksten betroffenen Städte.

Mehr als eine Million Einwohner leben hier auf über 2000 Meter Höhe am Rand der Hochanden. Die Stadt ist Unesco-Weltkulturerbe, die "weiße Stadt" nennt man sie auch; viele koloniale Gebäude sind aus weißem Vulkangestein. Auf dem prachtvollen Hauptplatz, der "Plaza de Armas", drängen sich normalerweise Touristen, die von hier aus das nahe "Tal der Kondore" besuchen oder Bergtouren unternehmen. Jetzt sieht man vor allem verzweifelte Menschen auf der Suche nach Sauerstoff.

Valencias Eltern wohnen zusammen mit einem ihrer Brüder und dessen Familie in einem zweistöckigen Haus. "Früher befand sich das Grundstück zwischen Äckern auf dem Land", erinnert sie sich. "In den vergangenen Jahren wurde es von der Stadt geschluckt". Ihr Vater arbeitete in einer Brauerei, er wusch dort die Autos der Manager. "Er hat seinen Job geliebt", sagt sie. "Wenn er die Wagen zum Waschen fuhr, hat er sich wie der Firmenchef persönlich gefühlt".  

Auto statt Krankenhaus: Patienten werden vor dem Honorio Delgado Regional Krankenhaus in Ariquipa mit Sauerstoff versorgt

Auto statt Krankenhaus: Patienten werden vor dem Honorio Delgado Regional Krankenhaus in Ariquipa mit Sauerstoff versorgt

Foto: Jorge Esquivel/ EPA-EFE/ Shutterstock

Seit seiner Pensionierung lebte er von der Rente, er konnte sich sogar ein Auto leisten. "Er litt keine Not", sagt Valencia. Ihre Brüder arbeiten auf dem Bau, einer ist Maurer, ein anderer belädt Lastwagen mit Steinen, einer verdingt sich als Clown auf Kinderfesten. "Wir waren arm, aber glücklich."

Überfüllte Krankenhäuser

Als ihr Bruder in Lima an Covid-19 erkrankte, ging ihr Vater aus Angst vor Ansteckung nicht mehr aus dem Haus, die Mutter zog zu Verwandten. "Er war fit für sein Alter, nur der Blutdruck war etwas hoch", sagt die Tochter. Dreimal hatte er sie bereits in Deutschland besucht, im April wollte er wieder zu ihr reisen, das Ticket hatte sie bereits gekauft. Doch der Flug war wegen Corona gestrichen worden.

Die ersten Symptome verspürte er am Donnerstag, fünf Tage vor dem Nationalfeiertag. "Wir wissen nicht, wie er sich angesteckt hat", sagt Valencia. "Er hatte Fieber wie bei einer starken Erkältung."

Ein Bekannter, der als Arzt arbeitete, machte einen Schnelltest, er war negativ. Doch als die Atemnot zunahm, ließen sie seine Lunge röntgen, sie war voll von kleinen weißen Punkten, ein typisches Covid-19-Symptom. Valencia rief eine Freundin an, die im Krankenhaus arbeitet. "Bringt ihn nicht her, wir haben keinen Platz", sagte sie.

In ihrer Verzweiflung gaben ihre Brüder ihm verschiedene Medikamente, darunter Paracetemol gegen das Fieber und ein Mittel, das eigentlich zur Bekämpfung von Parasiten eingesetzt wird, aber in Peru den Ruf hat, auch gegen Corona zu wirken. Sie kauften ein Gerät, mit dem sich die Sauerstoffsättigung der Lunge messen lässt. Gleichzeitig machte sich Valencia telefonisch auf die Suche nach Sauerstoffflaschen.

Sie telefonierte alle Geschäfte ab, veröffentlichte Nachrichten in den sozialen Medien. Schließlich meldete sich über Facebook eine Bekannte, die in Chile lebt. Ihre Mutter in Arequipa hatte vorsorglich mehrere Flaschen gekauft, weil sie an Corona erkrankt war, aber sie war genesen und brauchte sie nicht mehr. Sie erstand vier Flaschen für umgerechnet 6000 Euro und überwies das Geld. Eine Füllung würde für zwei Tage reichen.

"Ich habe mich so machtlos gefühlt"

Einer von Valencias Brüdern holte die Flaschen ab, sie bekamen sie, obwohl die Banken wegen des Nationalfeiertags geschlossen waren, sie atmeten auf. Doch als sie am nächsten Tag die Sauerstoffsättigung seiner Lunge maßen, lag sie bei nur 56 Prozent. "Da haben wir entschieden: Jetzt muss er ins Krankenhaus."

Ihre Brüder trugen ihn ins Auto, auch die Sauerstoffflaschen hievten sie in den Wagen. Sie seien zu dem staatlichen Krankenhaus Honorio Delgado gerast, berichtet Valencia. "Mein Vater war krankenversichert, die Beiträge wurden immer bezahlt, er hatte Anrecht auf eine Behandlung." Doch es war zu spät. Alfonso Valencia Flores starb in seinem Auto vor dem Krankenhaus. Es war Mittwoch, der 29. Juli, 19 Uhr. Einen Tag nach dem Nationalfeiertag. Am Sonntag wäre er 81 Jahre alt geworden.

"Ich habe mich so machtlos gefühlt", sagt seine Tochter in Deutschland. "Ich hatte das Geld überwiesen, wir hatten die Flaschen, aber es war zu spät".

Am Tag nach dem Tod ihres Vaters meldete sich eine Cousine. Ein Freund ganz im Süden des Landes sei schwer an Covid-19 erkrankt und auf dem Weg nach Arequipa. Sie suche dringend eine Sauerstoffflasche.

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