
Cohn-Bendit zum politischen Chaos in Paris »Für Vernunft ist in der französischen Politik weniger Platz als in Deutschland«
Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
SPIEGEL: Herr Cohn-Bendit, nach der Parlamentswahl am vergangenen Sonntag, bei der Präsident Emmanuel Macron seine absolute Mehrheit verloren hat, befürchten viele, Frankreich werde nun unregierbar. Sie auch?
Cohn-Bendit: Ich wäre dafür, das Ganze mal rational zu betrachten. Eine absolute Mehrheit ist in einer liberalen Demokratie eine Ausnahme, insofern ist dieses Wahlergebnis ziemlich normal, in Deutschland wäre es nicht weiter der Rede wert. Stärkste Partei ist Macrons Regierungspartei. Und mit der muss er sich jetzt Koalitionspartner suchen. Punkt. Aus. Aber Vokabeln wie »Koalitionspartner« oder »Kompromisse« sind in Frankreich Fremdwörter. Ich glaube, die Art, wie man in Paris Regierungsgeschäfte führt, ist an ihre Grenzen gestoßen.
SPIEGEL: Der Konservative Xavier Bertrand sagte in dieser Woche, ein Bündnis mit Macron einzugehen wäre ungefähr so, als wenn man kurz vor ihrem Untergang noch auf der »Titanic« einchecke.
Cohn-Bendit: Alle diese Politiker verstehen nicht, dass sie selbst auch auf der »Titanic« sitzen. Sie sind Teil eines politischen Systems, das gerade abgewählt wurde, es hat keine Zukunft mehr. Aber sie glauben immer noch, dass die Welt von Präsident Charles de Gaulle noch weiter bestünde. Das ist vorbei, Frankreich ist in viele verschiedene Lager aufgespalten, es gibt keine eindeutigen Mehrheiten mehr. Nur eine parlamentarische Auseinandersetzung mit verschiedenen Mehrheiten kann dieser neuen Diversität gerecht werden.

Der Kaltmacher
Lange profitierte Deutschland von billigem russischem Gas. So sehr, dass man es mit der Energiewende nicht mehr eilig hatte. Rekonstruktion einer verhängnisvollen Gasliebe, die im Winter eiskalt enden könnte. Was auf das Land zukommt, erklärt Wirtschaftsminister Habeck im SPIEGEL-Gespräch.
Lesen Sie unsere Titelgeschichte, weitere Hintergründe und Analysen im digitalen SPIEGEL.
SPIEGEL: Warum fällt es der politischen Klasse in Paris so schwer, Kompromisse nicht als Zeugnis von Schwäche, sondern als Teil einer politischen Kultur anzusehen?
Cohn-Bendit: Konstitutiv für das politische Denken der Franzosen ist noch immer die Französische Revolution: Es gibt einen Machthaber, das ist der König, nur dass der jetzt im Élysée sitzt. Aber noch immer möchte man sich vorbehalten, ihn zurechtzustutzen, vielleicht sogar zu köpfen. Die Franzosen sind ein revoltierendes Volk. Für die langweilige Kompromisssuche eines deutschen Systems gibt es da wenig Platz. Kompromisse zu schließen, heißt in Frankreich, sich zu kompromittieren. Wer hingegen gradlinig ist, an seinen Zielen festhält, verrät seine Ideale nicht. Dieser Radikalismus wird als der höhere Wert angesehen, auch wenn das nicht mehr zu einer vielfältiger gewordenen Gesellschaft passt.
SPIEGEL: Macron hat kurz vor der Wahl an die Wähler appelliert, ihm eine solide Mehrheit zu verschaffen. Er sagte in dieser Rede, keine einzige Stimme dürfe der Republik – also ihm – fehlen, als ob er einen Alleinanspruch auf diesen Begriff hätte.
Cohn-Bendit: Das ist ja der Wahnsinn dieses Systems. Im Élysée-Palast sitzt ein republikanischer König, und dieser König sagt: »La République, c'est moi.« Ich denke, Macron war überzeugt davon, dass man als gewählter Präsident automatisch durch eine Parlamentsmehrheit bestätigt wird. Deswegen hat er auch keinen Wahlkampf gemacht. Nun steht er vor dem Scherbenhaufen seiner eigenen Hybris.
SPIEGEL: Was hat zu dieser Hybris geführt? 2017 hat er als Kandidat noch viele Schwachstellen des politischen Systems benannt und Reformen gefordert.
Cohn-Bendit: Macron hat sich im Laufe der Zeit von vielem entfernt, was er 2017 formuliert hatte. Er wurde aufgesaugt von diesem ganzen Brimborium. Es ist nicht allen klar, welche Macht einem dieser Posten im Élysée gibt. Ein französischer Präsident wird so gut wie nie mit politischen Kräften der Opposition konfrontiert, er darf ja noch nicht mal im Parlament reden. Er ist »hors-sol«, er schwebt über den Dingen.
SPIEGEL: Nach der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen vor zwei Monaten hatte Macron erklärt, er habe verstanden und auch all jene gehört, die nicht für ihn gestimmt hätten. Er kündigte einen Neuanfang und eine neue Regierungsmethode an. Davon war danach nichts zu sehen. Waren das nur Lippenbekenntnisse?
Cohn-Bendit: Das glaube ich nicht, ich habe mich damals mit ihm ausgetauscht. Er hat die vielen Stimmen für die beiden Blöcke ganz rechts und links außen ernst genommen. Er hatte die Unzufriedenheit im Land gesehen und verstanden. Aber das führte nicht dazu, dass er seine Verachtung für das Parlament, die fast alle Präsidenten der fünften Republik eint, abgelegt hätte.
SPIEGEL: Die Parlamentswahl hatte auch den Aufstieg zweier Politiker am linken und rechten Rand zur Folge. Jean-Luc Mélenchon und Marine Le Pen wollen unter anderem die Nato verlassen und EU-Verträge nicht einhalten. Warum wählen die Franzosen solche Politiker, was sagt das über die französische Gesellschaft?
Cohn-Bendit: Die Jungen, die Mélenchon gewählt haben, sind nicht unbedingt Anti-Europäer. Und die Nato interessiert sie einfach nicht. Sie wollten wieder links wählen und nach jahrelanger Erniedrigung wieder sagen können: Wir sind links. Und genauso gibt es ein rechtes Frankreich, das offen rechtsnational wählt.
SPIEGEL: Dieses rechte Frankreich hat Marine le Pens Partei Rassemblement National (RN) zu 89 Abgeordneten im Parlament verholfen, bisher waren es nur acht. Meinen die das auch alles nicht so ernst?
Cohn-Bendit: Ein Teil der französischen Gesellschaft ist total verunsichert bis rassistisch, sie ist viel verhärteter und gespaltener als in Deutschland. Das hat auch mit den Terroranschlägen in Frankreich zu tun, deren psychologische Wirkung darf man nicht unterschätzen. So etwas ist schwer für eine Gesellschaft zu verdauen. Die RN-Abgeordneten werden diese Spaltung weiterbetreiben, aber viele ihrer Vorhaben werden keine Chance haben.
SPIEGEL: Könnten sie nicht manchmal auf die Unterstützung der Konservativen setzen?
Cohn-Bendit: Nehmen wir eines der ersten Projekte, das sie angekündigt haben. Sollte der RN tatsächlich ein Gesetz gegen den Islamismus vorschlagen, mit dem das Kopftuchtragen im öffentlichen Raum verboten werden soll, werden fast alle Fraktionen im Parlament dagegenstimmen, sogar Mélenchon.
SPIEGEL: Die Opposition macht Macron den Vorwurf, er habe die aktuelle Situation bewusst herbeigeführt, indem er die extremen Lager am linken und rechten Rand aus strategischen Gründen beförderte.
Cohn-Bendit: Dann gäbe es ja eine Zauberformel dafür, wie man das bewerkstelligen könnte. Daran glaube ich nicht, die Gründe dafür liegen zuallererst in der französischen Gesellschaft, in dieser irrationalen Kultur der Revolte. Für Vernunft ist in der französischen Politik weniger Platz als in Deutschland. Mélenchon ist das beste Beispiel dafür. Er steht für eine radikale Politik der Unvernunft. Seine angekündigten Wohltaten würden über 300 Milliarden Euro kosten. Haben Sie einen Wunsch für das nächste Weihnachten? Mélenchon erfüllt ihn Ihnen.
SPIEGEL: Macron trifft also keine Schuld an der veränderten Parteienlandschaft?
Cohn-Bendit: Natürlich hat er seinen Anteil daran. Er hat die Sozialisten und Republikaner 2017 für nicht zukunftsfähig erklärt. Er wollte das Beste aus dem linken und aus dem Mitte-rechts-Lager in seiner eigenen Bewegung zusammenbringen, sowohl Inhalte wie auch Personen. Das war sein Ziel, und das ist ihm auch gelungen. Aber er hat noch einen Fehler begangen.
SPIEGEL: Was meinen Sie?
Cohn-Bendit: Er hat sich vor der zweiten Runde der Parlamentswahl nicht eindeutig genug gegen den RN positioniert. Er hat nicht klar gesagt, es dürfe keine Stimmen für den Rassemblement National geben, wenn sich Kandidaten des Linksbündnisses und des RN gegenüberstehen. 2017 hatte er noch alle angegriffen, die so uneindeutig agierten. Nun hat er vor lauter Machtinstinkt das moralisch einzig Richtige selbst vergessen.
SPIEGEL: In der kommenden Woche steht der G7-Gipfel an. Wie angeschlagen ist Macron nun auf internationaler Ebene?
Cohn-Bendit: Er ist geschwächt, aber das kann er überwinden. Es wäre ein Drama für Europa, wenn er nicht mehr ernst genommen würde. Aber daran glaube ich nicht. Olaf Scholz ist auch angeschlagen, trotzdem wird er noch gehört. Macrons Vorschläge werden weiterhin ernst genommen. Der Schaden ist vor allem ein innenpolitischer.
SPIEGEL: Was wird sich nun als Erstes für Macron ändern?
Cohn-Bendit: Diese Wahl hat Macron einen Teil seiner Macht weggenommen. Er wird akzeptieren müssen, dass er sich die Macht teilt. Die nächste Machtinstanz wird ein neuer Premierminister oder eine neue Premierministerin werden, sie werden nicht mehr wie bisher seine Untergebene sein können. Und Macron wird eine Parlamentarisierung der fünften Republik mitgestalten müssen.
SPIEGEL: Und damit noch einmal Macht abgeben?
Cohn-Bendit: Er wird den anderen Parteien jetzt Vorschläge machen – zur Stärkung der Kaufkraft und zum Kampf gegen die Inflation, zur ökologischen Wende, zur Gesundheitsreform. Wenn diese Vorschläge an einer Blockadepolitik der anderen scheitern, kann er das Parlament auflösen. Das ist das Damoklesschwert für alle, die glauben, immer Nein sagen zu können. Und ich bin mir sicher, dass viele Franzosen diese Neinsager-Strategie auch nicht gut finden werden und bestrafen könnten.
SPIEGEL: Macron wirkte in den vergangenen Wochen seltsam zurückgezogen, war kaum präsent im Wahlkampf, was war da los?
Cohn-Bendit: Ich glaube, er hat keine Energie, keinen Saft mehr. Entscheidend ist die Frage: Kann er diese Energie wiederfinden, wird er an dieser neuen Herausforderung wachsen? Bisher ist er in schwierigen Situationen immer zur Höchstform aufgelaufen. Vor zwei Jahren hat mir jeder gesagt: Macron wird nicht wiedergewählt werden. Aber er wurde wiedergewählt, auch wenn das Wahlergebnis nicht glorreich ist.
SPIEGEL: Werden die kommenden Jahre auch darüber entscheiden, ob 2027 ein linksradikaler Kandidat oder eine Rechtspopulistin in den Élysée einziehen könnte?
Cohn-Bendit: Ich weiß nicht, es gibt keine Zwangsläufigkeit. Macron hat gerade den größten politischen Rückschlag seiner Amtszeit erlebt. Die Frage ist, ob er nun die Intelligenz hat, das zu überwinden und Frankreich den wichtigsten Dienst zu erweisen, den er diesem Land erweisen kann, nämlich durch seine Vorschläge und sein Verhalten die politische Kultur radikal zu ändern. Und das Parlament wieder zu einem Ort zu machen, in dem in einer Demokratie die Entscheidungen gefällt werden. Er scheint das verstanden zu haben. Am Mittwoch sagte er, die Methode, wie Gesetze entstehen, müsse sich nun verändern, und rief alle Parteien zur Mitarbeit auf. Die Frage ist, wie ernst es ihm damit ist. Und ob die Opposition sich darauf einlässt.
Anmerkung der Redaktion: Aus einer früheren Fassung des Textes ging nicht hervor, dass Cohn-Bendit nur bis 2014 für die Grünen im Europaparlament saß. Ab 2002 war er dort ihr Co-Vorsitzender, nicht ihr Fraktionschef. Wir haben die Stelle angepasst.