
Megagipfel der Europäer in Prag Was die EU der Ukraine jetzt anbieten muss


Kundgebung für einen EU-Beitritt der Ukraine in Brüssel
Foto: Kenzo Tribouillard / AFPDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Im Mai präsentierte Emmanuel Macron seine Idee einer »Europäischen Politischen Gemeinschaft« – nun nimmt sie Gestalt an. Der französische Präsident schlug vor, eine »Plattform für politische Koordinierung« zwischen den EU-Ländern und möglichen Beitrittskandidaten zu schaffen. Ziel sei es, den Bewerberländern vor ihrem offiziellen EU-Beitritt das Gefühl zu geben, zum europäischen Klub zu gehören. Die »EPG« könne die richtige Antwort sein, so Macron, um »unsere Nachbarschaft zu stabilisieren«, die in Anbetracht des russischen Krieges unter Druck geraten ist.
Nun also das erste informelle Treffen der Staats- und Regierungschefs. Die EU hat vierundvierzig Staaten eingeladen, darunter das Vereinigte Königreich, Israel, die Türkei sowie alle EU-Kandidatenländer. Die anfänglichen Einwände gegen Macrons Initiative, mit der EPG sollten einfach nur künftige EU-Beitritte verlangsamt werden, sind zwar weitgehend verschwunden – aber große Erwartungen hat auch niemand. Einem Prager Diplomaten zufolge (Tschechien hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne) sollte der Gipfel ein »positives Signal in dieser turbulenten Zeit« aussenden. Und das ist sicherlich eine Anstrengung wert.
Dennoch bleibt die Frage: Wenn die Europäische Union ihrer geopolitischen Verantwortung in der Nachbarschaft gerecht werden will, warum investiert sie nicht mehr in den Erweiterungsprozess, statt neue Gipfelformate zu entwickeln, von denen kaum einer weiß, wofür sie genau stehen?

Frankreichs Präsident Macron: »Unsere Nachbarschaft stabilisieren«
Foto: Ludovic Marin / AFPEchte Perspektiven statt neuer Gipfelformate
Dass sie schnell konkrete Schritte gehen kann, hat die EU erst kürzlich bewiesen: Unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges verlieh sie der Ukraine und der Republik Moldau auf dem EU-Gipfel im Juni den Kandidatenstatus – und gab damit den Bürgerinnen und Bürgern dieser Länder inmitten der Sorge um Sicherheit und Stabilität Hoffnung. Sie sendet damit auch eine Botschaft an Russland, dass die EU angesichts des rücksichtslosen Verhaltens Putins nicht nachgibt. Nicht weniger wichtig ist, dass die EU im vergangenen Sommer auch die unsägliche Blockade auf dem Balkan überwunden und den Weg für Beitrittsgespräche mit Albanien und Mazedonien freigemacht hat. Viel zu lange hatte die EU die Erweiterung verschleppt und damit die Frustration und das Vertrauen in die europäische Orientierung in den Kandidatenländern untergraben.
Es liegt im Eigeninteresse der EU, den Erweiterungsprozess zu einem Erfolg zu machen. Und ihr Engagement für die Ukraine – Finanzhilfe, Integrationsangebot und militärische Unterstützung – könnte das beste Mittel dafür sein. Der EU-Erweiterungsprozess wäre auch die beste Garantie dafür, dass die Hilfe effizient genutzt und dadurch wirksam wird. Weitere Beitrittskandidaten könnten davon profitieren, wenn die EU ihr historisch effizientestes Instrument zur Schaffung von Frieden und Stabilität in Europa erneut einsetzt. Die EU wäre gut beraten, so viel wie möglich zu tun, um nicht in eine weitere Erweiterungsmisere zu schlafwandeln.
Ob die Europäische Politische Gemeinschaft dies gewährleisten kann, ist allerdings zweifelhaft. Es kann ja gar nicht – nur – um die EU-Erweiterung gehen, wenn Länder wie das Vereinigte Königreich und Israel dabei sind. Vom Prager Gipfel diese Woche wird in erster Linie erwartet, dass er die Helsinki-Prinzipien von 1975, einschließlich der territorialen Integrität und der Achtung der Souveränität aller Länder, bekräftigt. Die Franzosen wollen dort auch über die europäische Sicherheitsordnung und die geopolitischen Herausforderungen sprechen.
Der EPG geht es also in erster Linie wohl um Selbstvergewisserung. Die neue Gemeinschaft, die möglicherweise ein- oder zweimal im Jahr zusammentritt, könnte somit einer OSZE 2.0 ähneln – einer Gruppe gleich gesinnter Länder, die in ihrer Ablehnung der russischen Zerstörungspolitik vereint sind.
Die »Europäische Politische Gemeinschaft« ist keine Lösung
Ein solcher Rahmen kann den Beitrittskandidaten zwar Zugang zu einem hochrangigen strategischen Forum verschaffen, doch wird er ihren jeweiligen Integrationsprozess wohl kaum deutlich voranbringen. Es wird ein »Arbeitsraum für europäische Führungskräfte« sein, wie es ein hoher Beamter der Kommission ausdrückt, während die Schlüsselfragen wohl unbeantwortet bleiben werden: Wie kann man den Kandidatenländern eine glaubwürdige mittelfristige Perspektive und konkrete Vorteile bieten? Wie lassen sich institutionelle Blockaden im Beitrittsprozess beseitigen? Wie können sie besser in die EU integriert werden, bevor sie der Union tatsächlich beitreten können? Das Hauptproblem für die EU wird im kommenden Jahrzehnt darin bestehen, die proeuropäische Orientierung der Nachbarn aufrechtzuerhalten, bis sie, irgendwann, vollwertige Mitglieder des Klubs sein werden.
Dass es noch lange dauern wird, liegt auf der Hand. Keiner kann sich heute leicht einen Beitritt von neuen Ländern ausmalen. Das liegt an den Kandidaten, aber auch an der EU selbst. Bei Weitem nicht alle nehmen die Mitgliedsperspektive für die Ukraine (und andere Länder) so bitterernst, wie die Erweiterungsbefürworter in den Kandidatenstaaten. Immer lauter werden auch die Stimmen derjenigen, die wie Bundeskanzler Olaf Scholz eine EU-Vertragsreform als Voraussetzung für die neue Erweiterungsrunde anmahnen. Sosehr die Aufhebung oder zumindest Lockerung des Einstimmigkeitsprinzips in diesem Zusammenhang plausibel erscheinen mögen, bilden sie auf absehbare Zeit eine unüberwindbare Hürde. Es kann sehr wohl sein, dass die Kandidatenstaaten früher für den EU-Beitritt reif sind als die EU für ihre Aufnahme.
Auch wenn das in einer weiten Ferne liegt, muss sich die EU auf ein solches Szenario vorbereiten. Sie sollte den EU-Anwärtern einen Beitritt zum gemeinsamen Markt in Aussicht stellen, sobald diese alle Kriterien erfüllt haben. Dies würde bedeuten, dass die Bürger der Ukraine, der Republik Moldau und der Balkanländer viele Freiheiten der EU genießen könnten, auch wenn sie noch nicht an allen Entscheidungsprozessen teilnehmen und in politischen Gremien der EU sitzen dürfen. Die Norweger oder Isländer sind genau in dieser Situation. Aber anders als bei diesen wohlhabenden Staaten, müsste dieser Status mit einem Zugriff auf die EU-Haushaltsmittel verbunden werden, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Die EU muss und will der Ukraine einen Wiederaufbaufonds zur Verfügung stellen.
Ein solches Angebot würde ein starkes Signal der Ernsthaftigkeit in der EU-Erweiterungspolitik sein und ein realistisches Zwischenziel für beide Seiten formulieren. Es würde auch die politische Hürde der Vertragsreform zunächst aus dem Weg schaffen, ohne das Ziel des Vollbeitritts aufzugeben. Dieser würde dann leichter zu vollziehen, sollte das Miteinander im gemeinsamen Markt gut funktionieren. Nicht zuletzt würden die Bürger der Kandidatenländer sehen, dass ihr Schicksal von nun an lediglich in ihren eigenen Händen liegt und nicht vom Gutdünken der EU abhängt. Auf dem Weg der Kandidaten in die EU kann es keine Abkürzungen und keine Rabatte geben. Aber die Glaubwürdigkeit der EU hängt davon ab, ob sie ihr Wort hält und eine feste Anbindung dieser Länder anstrebt, bevor Frustration um sich greift.
Das ist das Gebot der Stunde. Es sind in der Tat turbulente Zeiten – und die Staats- und Regierungschefs der EU sollten ihr Bestes tun, um auf dem Prager Gipfel ein positives Signal zu senden. Aber ohne weitere Bemühungen, dem Erweiterungsprozess Energie zu verleihen, wird die Europäische Politische Gemeinschaft nur ein Feigenblatt für die Unfähigkeit der EU als geopolitischer Akteur sein.