Europäische Kommunalpolitik Herr Fritz aus dem Schwarzwald ist nun Bürgermeister in Rumänien

In der westrumänischen Großstadt Temeswar haben die Wähler einen neuen Bürgermeister bestimmt - Dominic Fritz, ein junger Politologe aus Deutschland. Warum?
Hat rumänische Geschichte geschrieben: Dominic Samuel Fritz

Hat rumänische Geschichte geschrieben: Dominic Samuel Fritz

Foto: Ovidiu David / dpa

Der junge Mann steigt auf ein improvisiertes Podium - einen Stapel alter Paletten, den seine Unterstützer spontan von einer nahen Baustelle angeschleppt haben. Er winkt mit der Hand, Hunderte von Menschen auf dem Platz jubeln.

"Die Stadt hat heute eine neue Revolution vollbracht", ruft er in das Mikrofon. "Sie hat nicht auf die Nationalisten gehört, sondern gesagt, dass sie eine europäische Stadt ist. Sie hat einen europäischen Bürgermeister gewählt, und sie hat damit Geschichte für Europa geschrieben." Wieder brandet Jubel auf.

Die Szene hat sich so auf dem Siegesplatz im westrumänischen Temeswar am vergangenen Sonntagabend zugespielt: Dominic Fritz, 36 Jahre, gebürtiger Deutscher aus Baden-Württemberg, kein rumänischer Staatsbürger, hält eine Dankesrede in akzent- und fehlerfreiem Rumänisch. Er, der Ausländer, der äußerlich als Student durchgehen könnte, ist gerade zum Bürgermeister der drittgrößten rumänischen Stadt gewählt worden. Möglich ist das, weil EU-Bürger am Ort ihres festen Wohnsitzes ein passives und aktives Kommunalwahlrecht besitzen, in Rumänien seit 2015.

Fritz lebt erst seit einem Jahr dauerhaft in Temeswar

Dominic Fritz kennt Temeswar seit 2003, als er hier in einem Waisenhaus freiwilligen Sozialdienst leistete. Dauerhaft lebt er erst seit einem Jahr in der Stadt. Er verspricht ein Ende von Verwaltungsfilz, Nepotismus und Korruption, mehr Transparenz und Bürgernähe - kurz: eine "Revolution des guten Regierens". Damit hat er viele Menschen überzeugt, die die achtjährige Herrschaft des autoritären und korruptionsverdächtigen liberalen Bürgermeisters Nicolae Robu leid waren.

Weitaus mehr Menschen, als Fitz vermutete. Er erhielt auf Anhieb 53 Prozent der Stimmen, fast doppelt so viele wie der bisherige Amtsinhaber. "Ich habe mir gute Chancen ausgerechnet, aber nicht, dass der Sieg so eindeutig ausfällt, vor allem nach einer Kampagne mit nationalistischen Tönen", sagt Fritz dem SPIEGEL. "Das zeigt allerdings nicht, wie toll ich bin, sondern in erster Linie, wie toll diese Stadt ist."

Die Wahl von Dominic Fritz zum Bürgermeister von Temeswar (Timișoara) ist die große Sensation einer durchaus spektakulären Lokalwahl in Rumänien. Sie hat im traditionellen Macht- und Parteiengefüge des Landes, in dem Gemeinde- und Kreisräte eine sehr wichtige Rolle spielen, vieles durcheinander gewirbelt.

Ökoliberale Partei gewinnt auch in Bukarest den Kampf um das Amt des Oberbürgermeisters

Symbolische Gewinnerin der Wahl ist die ökoliberale Zwei-Parteien-Allianz USR-PLUS, zu Deutsch: "Union rettet Rumänien - Partei der Freiheit, Einheit und Solidarität". Sie ist in Teilen aus einer Bürgerrechts- und Umweltbewegung hervorgegangen und hat sich als drittstärkste Partei etabliert. Auch Dominic Fritz ist in Temeswar für sie angetreten.

Obwohl die USR-PLUS insgesamt hinter vorherigen Umfragewerten zurückblieb, konnte sie erstmals wichtige Bürgermeisterposten erobern, darunter neben Temeswar auch den Posten des Bukarester Oberbürgermeisters. Ihn wird der langjährige Aktivist Nicușor Dan bekleiden, der in der rumänischen Hauptstadt seit Langem gegen Korruption und für eine nachhaltigere Stadtentwicklung kämpft.

Auch in anderen wichtigen Städten siegten unabhängige Kandidaten und politische Neueinsteiger, etwa in der siebenbürgischen Kreisstadt Neumarkt (Târgu Mureș), in der viele Angehörige der ungarischen Minderheit leben. Sie war im März 1990 Schauplatz eines von rumänischen Nationalisten provozierten, blutigen Konflikts. Erstmals seit zwei Jahrzehnten gewann in der Stadt wieder ein Ungar die Wahl, der Archäologe Zoltán Soós, der mit einem antinationalistischen Programm angetreten war und damit auch rumänische Wähler ansprechen konnte.

Überraschend gut abgeschnitten hat auch die regierende Nationalliberale Partei (PNL), die Staatspräsident Klaus Johannis nahesteht, obwohl ihr Corona-Management in den vergangenen Monaten zum Teil äußerst chaotisch war. Sie profitierte offenbar noch immer von den desaströsen Regierungsjahren der Sozialdemokratischen Partei (PSD), deren Herrschaft vor einem Jahr durch ein Misstrauensvotum beendet wurde.

Die Partei ist ein Sammelbecken für Altfunktionäre, Nationalisten und korrupte Lokalfürsten; in ihrer Regierungszeit entschärfte sie vor allem den Kampf gegen die Korruption. Bei der jetzigen Wahl verloren einige mächtige "Lokalbarone" erstmals ihre jahrzehntealten Posten. 

Die Wahl in Temeswar fügt sich in einen Trend ein

Insgesamt sehen Beobachter die Lokalwahl als Ausdruck dafür, dass die meisten Menschen in Rumänien immer ungeduldiger einen transparenten, korruptionsfreien und modernen Staat einfordern. Die Wahl ist damit Teil eines wichtigen Trends in der Region:

  • Seit einiger Zeit wächst in den osteuropäischen EU-Ländern und in der Westbalkanregion die Unzufriedenheit mit den überwiegend autoritären und korrupten Regierungen.

  • So etwa erlebt Bulgarien derzeit Massenproteste gegen das System von Regierungschef Bojko Borissow.

  • In Montenegro wiederum fand vor Kurzem eine historische Wahlwende statt - die Partei von Staatspräsident Milo Đukanović, der schon vor Jahrzehnten ein autoritär geführtes und korrupt agierendes Regime errichtet hat, wurde abgewählt.

Dass sich nun auch Temeswar in diesen Trend einfügt, ist von hoher Symbolkraft - und kein Zufall. In der Stadt leben seit Jahrhunderten Rumänen, Ungarn, Serben, Deutsche, Roma und andere Nationalitäten zusammen, viele Einwohner sind mehrsprachig. In Temeswar begann im Dezember 1989 auch der Aufstand gegen die Ceaușescu-Diktatur.

Angesichts der Tradition von Toleranz und Freiheitsliebe fällt es den meisten Temeswarern wohl nicht schwer, Dominic Fritz als Bürgermeister zu akzeptieren. Der gelernte Politologe studierte unter anderem in Frankreich und Großbritannien, als Mitglied der deutschen Grünen machte er in Frankfurt Lokalpolitik. Er arbeitete in internationalen Entwicklungsprojekten und Friedensmissionen in Afrika. Vor seinem Umzug nach Temeswar war er in Berlin Büroleiter des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler.

"Signal für ein europäisches Rumänien und auch an die Zentren Europas"

Seine Wahl zum Bürgermeister von Temeswar sieht er als "Signal für ein europäisches Rumänien und auch an die Zentren Europas, die sich ja gern um sich selbst drehen". Temeswar, sagt Fritz, sei lange, bevor es die EU gab, Europa gewesen. "Dass eine Großstadt wie diese nun einen europäischen Bürgermeister hat, könnte ein nächster Schritt der europäischen Integration sein, in einer Zeit, in der viele Antworten auf die Frage suchen, wie man das bürokratische Monstrum EU den Menschen näher bringen kann."

Und Angst, sabotiert zu werden, zu scheitern, wie schon so viele Reformer in Rumänien in den vergangenen drei Jahrzehnten, die hat er nicht? "Nein", sagt Fritz. "Mich nervt diese pessimistische rumänische Redewendung: 'Was kann man schon machen?!' Mein Motto lautet: Man kann etwas machen."

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