Trumps "Remain in Mexico"-Politik Im Visier von Gangs und Kartellen

Migranten aus Lateinamerika müssen monatelang in mexikanischen Grenzstädten auf ihren US-Asylprozess warten - wo ihnen Gewalt und Entführungen drohen. Ein Gericht wollte diese Praxis stoppen, doch die Trump-Regierung versucht, daran festzuhalten.
Aus Ciudad Juárez in Mexiko berichtet Sonja Peteranderl
Aufgerüstet und abgeschirmt: Migranten aus Guatemala sollen daran gehindert werden, von Mexico nach Texas zu gelangen. Diese Aufnahme entstand im Juni 2019

Aufgerüstet und abgeschirmt: Migranten aus Guatemala sollen daran gehindert werden, von Mexico nach Texas zu gelangen. Diese Aufnahme entstand im Juni 2019

Foto: Christian Chavez/ AP
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Ein Drahtzaun soll die Migranten in der Herberge "Casa del Migrante" in Ciudad Juárez vor der Gewalt in der Grenzstadt schützen. Denis Zavala steht mit anderen jungen Männern am Rand eines kleinen Fußballfeldes aus Beton, seine Tochter Allison hat er auf einer Tonne abgesetzt, wo sie mit einem Bagger spielt.

Für seine Mädchen - die eine 14 Monate, die andere drei Jahre alt - hat Zavala Honduras verlassen, damit sie ein besseres Leben haben - jetzt hängt die Familie in der mexikanischen Grenzstadt fest. "Die Reise war hart. Wir haben es zwar geschafft, herzukommen - aber sonst haben wir gar nichts erreicht", sagt er. Seit die vierjährige Tochter einer Bekannten in Mexiko entführt wurde, hat er ständig Angst, dass seine Töchter gekidnappt werden: "Es ist einfach nicht sicher hier."

Denis Zavala

Denis Zavala

Foto: Sonja Peteranderl/ DER SPIEGEL

Mit wenig Gepäck, ohne Geld, dafür viel Hoffnung war der 35-Jährige im vergangenen Sommer mit seiner Familie in der Hafenstadt La Ceiba aufgebrochen - nach Fußmärschen und Etappen mit Bussen erreichten sie zwar Ende August die USA. Doch die US-Beamten, die sie in El Paso, Texas, in Empfang nahmen, schickten sie in die mexikanische Nachbarstadt Juárez zurück. "Wir sind von einem Land in ein anderes Land gekommen, in dem es dieselben Probleme gibt", sagt Zavala frustriert.

Vor rund einem Jahr hat US-Präsident Donald Trump die Migrantenschutzprotokolle (MPP) eingeführt, auch bekannt als "Remain in Mexico"-Programm. Seither müssen Asylsuchende, die über Mexiko in die USA gelangt sind, nicht in US-Einrichtungen, sondern auf der anderen Seite der Grenze ausharren - oft monatelang.

Am Freitag hatte ein US-Gericht die Regelung mit einer einstweiligen Verfügung gestoppt, da den Migranten in Mexiko Gefahren wie Angriffen, Entführungen und Morde durch Kriminelle drohen. Doch es war nur ein kurzer Rückschlag für Trumps Migrationspolitik: Wenig später setzte das Gericht die Entscheidung wieder aus, um der Regierung Zeit zu geben, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Das Weiße Haus argumentiert, der Stopp des Programms würde "die humanitäre und sicherheitspolitische Krise an der Grenze neu entfachen".

Experten gehen davon aus, dass der Oberste Gerichtshof den temporären Stopp von "Remain in Mexico" nun wieder kassiert - Migranten müssten damit weiterhin in Mexiko ausharren.

Verschiebung der Grenzen

So wie in Europa  werden die Grenzen zunehmend weiter nach Süden verschoben, die Betreuung von Migranten wird an Drittstaaten ausgelagert . Und Städte wie Juárez, die mit ihrer Sicherheitslage und dem Drogenkrieg überfordert sind, müssen nicht nur Neuankömmlinge, sondern auch Zehntausende von Rückkehrern auffangen.

In den vergangenen 13 Monaten wurden rund 60.000 Migranten nach Mexiko geschickt, darunter mindestens 16.000 Kinder. US-Beamten zufolge soll die neue Praxis die US-Einrichtungen entlasten und die Trennung von Familien verhindern. Doch die Verschärfung der Migrationspolitik zwingt Asylsuchende dazu, monatelang an Orten auszuharren, vor denen die US-Regierung ihre eigenen Bürger warnt  - und in denen sie Traumata, Gewalt und Kriminellen ausgeliefert sind.

Menschen aus El Salvador auf dem Weg in Richtung USA

Menschen aus El Salvador auf dem Weg in Richtung USA

Foto: CARLOS ALONZO/ AFP

Juárez, einst die Stadt mit der höchsten Mordrate der Welt, erlebt gerade erneut eine Explosion der Gewalt, vor allem durch Kämpfe zwischen verschiedenen Gangs, die den Drogenhandel kontrollieren. "Gangs, die dem Juárez-Kartell angehören, verteidigen den Markt", sagt Edgar, ein Ex-Polizist, der aus Sicherheitsgründen nur seinen Vornamen veröffentlicht sehen will. "Sie wollen nicht, dass andere Banden, die mit dem Sinaloa-Kartell paktieren, eindringen und Methamphetamin vertreiben, weil es ihnen ihren Heroinhandel zerstört."

Auch Delikte wie Entführung, Raub, Schutzgelderpressung plagen die Stadt - die gerade zur temporären Heimat von immer mehr Migranten wird.

Mitte Januar hatten Denis Zavala und seine Familie ihre erste Anhörung in El Paso vor einem US-Einwanderungsgericht - die nächste ist im März. "Wir hatten Hoffnung, aber dann haben wir gemerkt, was sie für ein Spiel spielen. Sie hören sich den Fall gar nicht richtig an, dann kommt der nächste", sagt Zavala. Selbst im Falle einer unwahrscheinlichen Abschaffung von "Remain in Mexico" müsste er zwar mit seiner Familie statt in Mexiko in einer Einrichtung in den USA auf eine Entscheidung warten - seine Chancen auf Asyl würden sich dadurch aber nicht erhöhen.

Migranten, die aus den USA zurückgeschickt wurden, warten an der Essensausgabe in Juarez, Mexiko

Migranten, die aus den USA zurückgeschickt wurden, warten an der Essensausgabe in Juarez, Mexiko

Foto: Jose Luis Gonzalez/ REUTERS

Für zentralamerikanische Migranten ist es schwierig, Asyl zu erhalten. "Die meisten Menschen fliehen aus Angst vor Verfolgung oder Bandengewalt aus ihren Ländern", sagt Elle Fersan dem SPIEGEL, Direktorin der Immigrants and Global Migration Initiative an der USC Gould School of Law in Los Angeles. "Sie haben wenig Zeit, um Beweise zu sammeln, wenn sie versuchen, einer gefährlichen Situation zu entkommen. Hinzu kommt, dass sie nicht immer die richtigen Informationen haben und nicht wissen, was sie mitbringen müssen." Auch seien etwa Drohungen oder zukünftige Gefahren im Fall einer Abschiebung schwer zu belegen.

Meist verlieren sich die Spuren der abgeschobenen Migranten. "In vielen Fällen bringen die USA Salvadorianer in Gefahrensituationen, obwohl sie wissen oder wissen sollten, dass ein Schaden wahrscheinlich ist", so die Bilanz eines kürzlich veröffentlichten Berichts der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch". Ob El Salvador oder Zavalas Heimat Honduras: Die zentralamerikanischen Länder führen die globalen Mordraten-Rankings an, sie kämpfen mit Ganggewalt, Unsicherheit, Korruption in Politik und Sicherheitsbehörden, aber auch sozialer Ungleichheit und Arbeitslosigkeit.

Etwa 380 Migranten vor allem aus Zentralamerika, aber auch Binnenflüchtlinge aus Mexiko sowie Brasilianer leben gerade in der Herberge in Ciudad Júarez. "Remain in Mexico" hatte anfangs vor allem Migranten aus Zentralamerika im Visier, wurde aber später auf weitere Nationalitäten ausgeweitet, seit Ende Januar werden auch Brasilianer nach Mexiko geschickt - nun hat die Herberge 79 brasilianische Bewohner.

Eine brasilianische Familie in der Herberge in Juarez

Eine brasilianische Familie in der Herberge in Juarez

Foto: Jose Luis Gonzalez/ REUTERS

Am Nachmittag knallt die Sonne in den Garten, auf Zäunen und Mauern haben die Bewohner überall Wäsche aufgehängt. Kinder spielen neben einer Regenpfütze, zwei Jungen kicken einen Fußball, ein paar Familien stehen an der Essensausgabe. Zwischendurch bellt wie auf einem Bahnhof eine Stimme durch den Lautsprecher, ruft Namen auf, die sich am Empfang melden sollen.

Es ist Ivonne López de Lara anzumerken, dass sie Dringenderes zu tun hat, als Interviews zu geben. Die Sozialarbeiterin der Herberge jongliert ungeduldig mit Notizzetteln, ruft einem Mitarbeiter Anweisungen hinterher. "Uns wurden viele Menschen geschickt, die aus den USA zurückgesandt worden sind", sagt sie.

"Was sie wollen, ist, die Grenze zu überqueren, unabhängig davon, was Präsident Trump sagt und tut. Sie haben eine Mission und einen Grund, warum sie auswandern müssen." Mehr Sorge als die US-Politik macht ihr, dass die mexikanischen Bürger sich von den Migranten abwenden könnten, auf deren Spenden die Herberge angewiesen ist. Bisher sei die Unterstützung aber gut.

Kinder, die aus den USA zurückgeschickt worden, spielen in Juarez, Mexiko

Kinder, die aus den USA zurückgeschickt worden, spielen in Juarez, Mexiko

Foto: Jose Luis Gonzalez/ REUTERS

Ihre Sicherheitsregeln musste die Herbergsleitung seit Einführung von "Remain in Mexico" aber lockern - weil sie so viele Menschen nicht monatelang auf so engem Raum einsperren kann. Je nach Fall müssen die Asylbewerber mehrere Wochen bis zu drei Monate auf einen Termin mit den US-Behörden warten - da es mehrere Termine sind, müssen sich viele auf Wartezeiten von sechs bis sieben Monaten einstellen. Früher war es verboten, die Herberge zu verlassen - "aber bei dieser Welle von Migranten lassen wir sie raus, sonst würden sie ja irgendwann durchdrehen", sagt López de Lara.

Eine Insel im Nichts

Draußen gibt es nicht viel, wohin sich ein Spaziergang lohnen würde. Die Herberge ist eine Insel im Nichts, inmitten einer ärmeren Wohnsiedlung von Juárez, nebenan liegen ein Fabrikgebäude und Brachstellen, um die Ecke rasen Autos und Busse eine verstaubte Schnellstraße entlang, an der sich ein paar Läden, Taco-Restaurants und Tankstellen angesiedelt haben. Die Migranten dürfen das Gelände nur tagsüber verlassen, nur in Gruppen, sie müssen sich abmelden und vor Anbruch der Dunkelheit wieder zurück sein. "Das organisierte Verbrechen ist hier Alltag", so die Sozialarbeiterin.

Für Gangs und Kartelle sind die schutzlosen Asylbewerber ein lukratives Geschäft. Kriminelle Organisationen  haben nicht nur das früher von unabhängigen Schmugglern oder Familien dominierte Schleusergeschäft übernommen, sondern überfallen, entführen und erpressen auch Geld von den Menschen, die den Angriffen meist schutzlos ausgeliefert sind. Sie zwingen Migranten, Drogen zu schmuggeln, rekrutieren sie für den Drogenhandel oder andere Zwangsarbeiten.

Kinder besonders betroffen

Allein bis Ende Januar hat die Organisation "Human Rights First" mehr als 816 öffentlich gewordene Fälle  von Morden, Vergewaltigungen, Folter, Entführungen und anderen Angriffen auf Migranten dokumentiert, die im Rahmen von "Remain in Mexico" in Mexiko ausharren müssen.

Kinder seien Migrationsexpertin Elle Fersan zufolge besonders gefährdet und "anfällig für psychische Gesundheitsprobleme, da viele von ihnen miterlebt haben, wie ihre Eltern getötet, geschlagen, angegriffen wurden". "Human Rights First" hat rund 200 Fälle dokumentiert, in denen Kinder fast oder tatsächlich gekidnappt worden sind.

Heiligenfigur im Empfangsraum der Herberge

Heiligenfigur im Empfangsraum der Herberge

Foto: Sonja Peteranderl/ DER SPIEGEL

Was machen Zavala und die anderen also den ganzen Tag, wenn jeder Schritt vor die Tür ein Risiko ist? Die Männer lehnen am Tor des Fußballfeldes, reden über Trump, der für sie "wie Hitler ist, so rassistisch", diskutieren übers Politik. "Die Regierung von Honduras ist ein Narco-Staat, der Bruder des Präsidenten hat Militär-Flugzeuge benutzt, um Drogen zu schmuggeln", regt sich Douglas Miguel Garcia auf, der wie Zavala aus Honduras kommt und das Land wegen der korrupten Politik verlassen hat, der Arbeitslosigkeit und Gewalt.

Er hofft, dass ihn ein mexikanischer Arbeitgeber bald für Gelegenheitsjobs anheuert, doch es gebe mehr Migranten als Arbeit und die Jobs seien schlecht bezahlt - und manche Unternehmer würden die Migranten sogar um ihre Löhne betrügen. Seine Frau lebt bereits in Florida, er war bei einer Buskontrolle durch die USA abgefangen worden, wurde nach Honduras abgeschoben - und machte sich ein zweites Mal auf den Weg. Wenn sie in den nächsten Tagen ihr Baby bekommt, kann er nur über WhatsApp-Videochat zusehen.

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In der Migrantenherberge von Juárez

Foto: Sonja Peteranderl/ DER SPIEGEL

Denis Zavala aus Honduras hat die Hoffnung aufgegeben - er kennt viele Horrorgeschichten, aber keinen einzigen Rückkehrer, der eine US-Aufenthaltsgenehmigung erhalten hätte. Die nächste Anhörung hat er daher abgesagt: "Wir haben kein Geld, ich kann keinen Anwalt bezahlen", sagt er. "Wir werden zurück nach Honduras gehen, dort gibt es keine Arbeit, es gibt gar nichts - aber wir haben keine andere Möglichkeit." Er weiß, dass es gefährlich ist, zurückzukehren - er will aber auch nicht riskieren, eine seiner Töchter in Mexiko zu verlieren.

Douglas Miguel Garcia dagegen ist fest entschlossen, seiner Frau nach Florida zu folgen: "Wer das letzte Wort hat, ist Gott", sagt er und lächelt unter seiner roten Basecap hervor. In der Herberge in Juárez steht eine Heiligenfigur von San Judas Tadeo, einem der zwölf Apostel, behängt mit Ausweisen von Migranten, Kreuzen. Von ihm erbitten sich die Bewohner der Herberge, dass er das Unmögliche möglich macht.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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