
Drogenumschlagplatz Guinea-Bissau Wer hat die Tonne Koks geklaut?

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Plötzlich steht alles still. Die Autos halten an, die Fußgänger bleiben wie angewurzelt stehen. Der Präsidentenkonvoi kommt, eine Szene wie aus einem amerikanischen Actionfilm, mit ein bisschen Slapstick. Der verdunkelte SUV wird flankiert von mehreren Pick-ups mit aufmontierten Maschinengewehren, bemannt mit maskierten Soldaten, die Knarre im Anschlag. Dazwischen noch ein Scharfschütze, festgeschnallt auf dem Dach eines fahrenden Autos, das Zielfernrohr am Auge.
Es ist tatsächlich nicht ungefährlich, in Guinea-Bissau Präsident zu sein. Wer sich davon überzeugen will, kann am Regierungspalast noch Einschusslöcher begutachten. Erst im Februar gab es wieder eine Schießerei vor Regierungsgebäuden, über Stunden, man weiß bis heute nicht genau, wer eigentlich gegen wen gekämpft hat. Fest steht: Mehr als ein Dutzend versuchter oder gelungener Staatsstreiche hat es seit der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Portugals 1974 bereits gegeben.

Guinea-Bissau ist extrem instabil, eines der ärmsten Länder der Welt
Foto: DER SPIEGELUnd mehr als einmal ging es bei den Umsturzversuchen im Kern um ein weißes Pulver, das für Europas Nasen bestimmt ist. Auch die Schießerei im Februar sei wohl ein Machtkampf um den Kokainhandel gewesen, behauptete Präsident Umaro Sissoco Embaló, nachdem sich der Rauch gelegt hatte.
Guinea-Bissau ist Umschlagplatz für Kokain aus Südamerika, das von hier aus weiter Richtung Europa geht. Eliten aus Militär und Politik kontrollieren den Handel mit der Droge, die Marine des Landes hat zwar kein einziges funktionierendes Schiff, aber hervorragend eingespielte Vertriebswege.
Die US-Amerikaner haben Guinea-Bissau deshalb mal als »Narcostaat« bezeichnet, was man vor Ort gar nicht gern hört. Doch fest steht: Kokain hat das Land fest im Griff. »Hier finden Kartelle die perfekten Bedingungen: genug Instabilität, eine korrupte Elite und langjährige Beziehungen zu südamerikanischen Drogenhändlern«, sagt Mark Shaw von der Nichtregierungsorganisation Global Initiative Against Transnational Organized Crime.
Die Innenstadt von Bissau besteht aus einer großen asphaltierten Hauptstraße, auf etwa halber Höhe liegt ein kleiner Platz, genutzt als Autowäsche. Junge Männer polieren mit weißen Lappen Fahrzeuge. Zwei Hummer stehen hier, diese überdimensionierten amerikanischen SUV, die neu gern mal 50.000 US-Dollar kosten. Das Durchschnittseinkommen in Guinea-Bissau liegt bei 75 US-Dollar – pro Monat.

Die einen fahren Hummer, die anderen schlagen sich gerade so durch
Foto: DER SPIEGELEin Mann in Armeeuniform steigt in einen frisch polierten BMW X6, er sieht stolz aus. Ob es sein eigenes Auto ist oder ob er es für einen Vorgesetzten abholt, bleibt unklar. Vieles bleibt unklar in Guinea-Bissau, das merkt man als Besucher sehr schnell. Hier ändern sich Wahrheiten binnen Minuten, Loyalitäten nach Überreichen eines Umschlags. Ein perfektes Umfeld für Drogenbarone.
Die Geschichte zeigt, wie jene Drogenbarone ein korruptes, instabiles Land für ihre Zwecke ausnutzen und dadurch die Instabilität immer weiter anfeuern. Leidtragende sind am Ende all die, die auf einen funktionierenden Staat angewiesen sind, die mit dem Drogenbusiness nichts zu tun haben wollen.
Dieser Fall erzählt von mehr als 900 Kilogramm verschwundenem Koks, Marktwert in Europa: 35 Millionen Euro. Vieles in dieser Geschichte bleibt ungewiss, vieles ist zu absurd, um glaubhaft zu sein, und scheint doch zu stimmen. DER SPIEGEL hat Ermittlungsakten eingesehen, mehr als ein Dutzend Verfahrensbeteiligte gesprochen, Insider interviewt.
Das ist die Version der Ermittler: Ende Oktober 2021 bekommt Lucas R. einen Anruf, jemand will Stoff kaufen, zehn Kilogramm. Kein großes Ding für Lucas, er ist quasi der Hauswart im Business, bewahrt zur Zeit des Anrufs gerade eine Tonne Kokain auf. Der Stoff lagert nicht etwa in einem hoch gesicherten Anwesen, gar einem Tresor, sondern in seinem kleinen Haus im belebten Bezirk Antula, direkt hinter der Eingangstür. Vor dem unscheinbaren Gebäude sitzt ein hagerer Jugendlicher im T-Shirt auf einem Plastikstuhl Schmiere.
Am Ende wird Lucas doch nur fünf Kilogramm los, den Rest lässt er in seinem Kofferraum, eingepackt in bunte Päckchen, auf denen eine Erdbeere abgebildet ist und RED geschrieben steht. Was Lucas nicht ahnt: Wahrscheinlich ist ihm anschließend jemand gefolgt, um das Versteck ausfindig zu machen, so vermuten es jedenfalls die Ermittler. Denn Bilder aus einer Überwachungskamera zeigen: Am nächsten Tag fahren Männer mit zwei Fahrzeugen auf das Grundstück, kurz darauf ist die Tonne Koks verschwunden.
Eine »Insel der Integrität« im Sumpf des westafrikanischen Landes
Lucas und sein Komplize Ivan haben jetzt ein Problem. Sie müssen ihre Chefs anrufen und die missliche Lage erklären. Drogenbosse sind über verschwundene Ware in der Regel nicht sehr erfreut. Also beichten sie den Diebstahl, kurz darauf kommt ein Auto vorgefahren. Die beiden werden hineingezerrt und in einen dichten Wald gebracht. Was dann passiert, zeigen Fotos aus der Ermittlungsakte: Lucas' und Ivans Körper sind übersät mit Striemen und blauen Flecken, an den Handgelenken dunkelrote Abdrücke von Kabelbindern. Die Besitzer des Kokains wollten wohl wissen, was Sache ist.
Doch Lucas' Vater bekommt Wind von der Entführung, Nachbarn haben die Szene beobachtet und ihn informiert. Er weiß: In ganz Guinea-Bissau gibt es nur eine einzige Stelle, die im jetzt noch helfen kann: die Polícia Judiciária (PJ), eine Spezialeinheit, die von Experten als »Insel der Integrität« im Sumpf des westafrikanischen Landes bezeichnet wird. Wenn es eine erfolgreiche Drogenrazzia in Guinea-Bissau gibt, dann nur, weil die Ermittler der PJ mal wieder heimlich im Alleingang ihre Arbeit gemacht haben.

Ihr Bürogebäude ist verfallen, ihre Namen und Bilder wollen die Beamten aus Sicherheitsgründen lieber nicht veröffentlicht sehen: Die Polícia Judiciária
Foto:DER SPIEGEL
Vor dem Büro der Polícia Judiciária stehen noch die beschlagnahmten Autos aus vergangenen Fällen, auch das von Lucas steht inzwischen hier. Es sind Trophäen eines aussichtslosen Kampfs, aber immerhin sind sie so etwas wie ein greifbarer Erfolg. Im Büro eines der leitenden Ermittler ist es unerträglich heiß, die Klimaanlage funktioniert mal wieder nicht. Die PJ ist akut unterfinanziert, niemand in Guinea-Bissau hat Interesse an ihrer Arbeit. Doch sie ganz abzuschaffen, kann sich die Regierung nicht leisten, dann gäbe es keine Hilfsgelder mehr aus dem Ausland. So werden sie einfach auf Sparflamme gehalten, oder wie es ein internationaler Drogenfahnder ausdrückt: »Sie versuchen momentan einfach nur zu überleben.«
Der telefonische Hinweis zu den gekidnappten Kokaindealern ist für die Ermittler die große Chance, endlich mal wieder einen Coup zu landen. Sie zögern nicht lange und lassen jemanden bei den beiden Entführten anrufen. Die heben tatsächlich ab, unter den Augen der Entführer behaupten sie mit zittriger Stimme, dass alles in Ordnung sei. Den Einsatzkräften der PJ gelingt es, das Handy der Opfer zu orten – sofort machen sich die Polizisten auf den Weg.
Kokain mit roter Erdbeere
Stunden später sind die mutmaßlichen Entführer hinter Schloss und Riegel. Erst während der Vernehmung der vermeintlichen Opfer wird den Ermittlern klar, dass sie auf einen der größten Drogenfälle der vergangenen Jahre gestoßen sind. Sie erfahren von der verschwundenen Tonne Kokain und taufen den Einsatz »Operation RED«. Eigentlich ein voller Erfolg, wäre es nicht Guinea-Bissau.
Im Interview mit dem SPIEGEL schildert es ein Ermittler so: »Die oberen Instanzen versuchen, unsere Fälle immer zu beerdigen.« Mehrere PJ-Beamte berichten von Drohanrufen. »Natürlich habe ich Angst. Jeder Tag könnte mein letzter sein«, sagt einer der Polizisten. »Die Polícia Judiciária hat auch nach all den Jahren des Drucks nicht aufgegeben. Das ist wirklich beeindruckend«, sagt Mark Shaw von der Global Initiative.
Im Büro von Moussa Sanha, dem Anwalt der mutmaßlichen Entführer, lernt man die andere Seite des Landes kennen. Auf seinem Schreibtisch steht nicht etwa ein Abbild von Justitia, sondern die berühmten drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. »Meine Mandanten haben nur gemeinsam mit den anderen im Wald ein spirituelles Ritual durchgeführt«, sagt er mit ganz ernster Miene. »Der Fall wird sich in Luft auflösen.«

Hält nicht viel von den Ermittlungen der Polícia Judiciária: Generalstaatsanwalt Bacaria Biai
Foto: DER SPIEGELWahrscheinlich behält er damit sogar Recht. In bequemen Ledersesseln empfängt der Generalstaatsanwalt zum Gespräch, sein Büro ist stark heruntergekühlt, die Stimmung ebenso fröstelig. Wir dürfen nicht wörtlich aus dem Gespräch zitieren, aber mit Fug und Recht lässt sich aus den Aufnahmen konstatieren: Die Behörde ist auf Kriegsfuß mit der Policia Judiciaria, versucht ihre Arbeit massiv zu diskreditieren. Auch die Existenz der mehr als 900 Kilogramm Kokain werden in Zweifel gezogen. Dabei sollte der Generalstaatsanwalt doch für Recht und Ordnung in Guinea-Bissau sorgen. Beobachter und Ermittler fürchten, er sei für dezent überreichte Umschläge empfänglicher als für Beweise, belegen lässt sich das freilich nicht.
Fest steht: Einen der Beschuldigten mussten die Beamten der PJ schon ziehen lassen, dabei hatten sie ihn mühsam im nahe gelegenen Gambia aufgespürt. Dort hatten ihn die Behörden sogar verhaftet und an die Grenze gebracht. Doch in letzter Sekunde kam eine WhatsApp, »Druck von oben«, erzählt ein Ermittler. Sie fuhren zähneknirschend ohne den mutmaßlichen Täter zurück.
Der Fall »Operation RED« ist äußerst heikel, denn die Spuren führen zu prominenten Militärs, unter anderem zu Tchamy Yala. Der ehemalige Offizier wurde schon 2013 von amerikanischen Drogenfahndern in eine Falle gelockt und verhaftet. Auf einer Luxusjacht wollte er damals mit zwei Komplizen aus dem Militär einen großen Deal einfädeln, Champagner und spärlich bekleidete Damen standen bereit. Dann legte das Schiff ab in internationale Gewässer, die vermeintlichen Geschäftspartner entpuppten sich als DEA-Agenten, es klickten die Handschellen.
Fünf Millionen US-Dollar Kopfgeld für den Kingpin
Nach ein paar Jahren kam Yala wieder frei und macht seither offenbar munter weiter. Die Ermittler glauben, dass er auch im aktuellen Fall die Fäden gezogen hat. Jedenfalls haben sie beobachtet, wie er sich mit den Folterern austauschte. Yala wurde später festgenommen – allerdings nichts als Drogen-Kingpin, sondern als einer der Drahtzieher des Putschversuchs im Februar.
Ein vertraulicher Vermerk aus dem Ausland, der dem SPIEGEL vorliegt, offenbart weitere brisante Details: Wenige Wochen vor dem Anruf bei Lucas hob ein Privatflugzeug vom internationalen Flughafen Osvaldo Vieira in Bissau ab. An Bord war demnach neben einem der Hauptbeschuldigten in den Ermittlungen der Operation RED auch Tchami Yala. Der Flug war offiziell als Vorabkommando für einen anstehenden Präsidentenbesuch in Brasilien registriert, die perfekte Tarnung.
Doch offenbar landete der Jet stattdessen in Bolivien. Ermittler glauben, dass dort die entscheidende Kokainlieferung ausgehandelt wurde, die kurz darauf bei Lucas landete. »Das ist eine neue Dimension: Früher arbeiteten die Militärs nur als Handlanger der südamerikanischen Kartelle, heute scheinen sie die Deals selbst einzufädeln«, erzählt ein europäischer Beamter.

Nicht gerade eine Hochglanzmetropole: Bissau, die Hauptstadt von Guinea-Bissau
Foto: DER SPIEGELAn der Spitze des Drogenhandels vermuten Insider nach wie vor einen Mann, dessen Namen in Guinea-Bissau alle nur flüsternd aussprechen: Ex-General Antonio Indjai. Er ist seit einigen Monaten von den amerikanischen Behörden zur Fahndung ausgeschrieben, sachdienliche Hinweise werden mit fünf Millionen US-Dollar belohnt. Dabei wissen alle, wo er sich aufhält: Auf einer schicken Farm nördlich der Hauptstadt Bissau. Festgenommen wird er nicht, stattdessen ließ sich Präsident Embaló noch vor zwei Jahren mit ihm ablichten.
Mehrere mutmaßlich Beteiligte im Fall RED gelten als Handlanger Indjais, die ohne die Anweisungen des Bosses gar nichts unternehmen. Doch selbst die Polícia Judiciária lässt von diesen Verbindungen die Finger – sie muss sich mit den kleinen Fischen zufriedengeben. Und so kann in dem kleinen Land Westafrikas der Drogenhandel Richtung Europa weiterhin prächtig florieren, mit ernsten Konsequenzen für die Gesellschaft.
»Es ist im Interesse der Drogenhändler, das Land in permanenter Instabilität zu halten«, sagt Augusto da Silva von der Menschenrechtsorganisation Liga dos Direitos Humanos. »Als Bürger frustriert mich das sehr, denn seit Langem funktioniert hier gar nichts.« Guinea-Bissau gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, staatliche Verwaltung ist in weiten Teilen nicht existent.

Das Entzugszentrum von Pastor Domingo – hier werden immer mehr Kokain- und Cracksüchtige behandelt
Foto: DER SPIEGELUnd noch etwas bringt der Drogenhandel mit sich: eine offenbar steigende Zahl von Abhängigen. Vor Ort wird das teure Kokain aus Südamerika zu billigem Crack verarbeitet und auf den Straßen Bissaus verkauft. So machen die Dealer noch ein schnelles Geschäft vor Ort, bevor der Rest der Ware nach Europa geht.
Etwa eine Autostunde von Bissau entfernt, wo sich üppige Mangrovenwälder ans Meer schmiegen, betreibt Pastor Domingo eine Entzugsklinik. Die Jugendlichen sollen durch körperliche Arbeit abgelenkt werden, sie stellen Mauersteine her oder pflanzen Mais auf einer kleinen Farm an. Gerade läuft die Ausgabe des Mittagessens, es geht laut und rau zu. Früher hat er vor allem Cannabiskonsumenten betreut, erzählt der Pastor. Doch inzwischen sind fast ein Drittel seiner Klienten kokain- oder crackabhängig. »Das greift immer stärker um sich, auch die Gewalt nimmt zu«, sagt der stämmige Mann mit hochgezogenen Augenbrauen.

José war früher abhängig, hat sich als Kleindealer durchgeschlagen
Foto: DER SPIEGELDann ruft er José zu sich, der eigentlich anders heißt. Der hat seine Basecap tief ins Gesicht gezogen, man sieht seinem Blick an, dass er das Leben auf der Straße kennt. Mit elf hat José angefangen, Drogen zu nehmen, später wurde er kokainabhängig. Den Stoff hat er sich durch Dealen verdient, in Bissau kostet das Gramm drei Euro. »Die Bosse waren alle im Militär oder bei der Polizei, die bekamen wir aber nicht zu Gesicht«, erzählt der frühere Junkie. Verhaftet werden höchstens die Laufburschen, nie die Drahtzieher.
So wie bei der Operation RED. Ende vergangener Woche hätte eigentlich das Urteil fallen sollen. Doch der Computer des Richters sei kaputt, hieß es. Der Termin wurde verschoben.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.