
Politik gegen Corona Entschlossen, aber nicht allmächtig


Polizeistreife im Englischen Garten, München
Foto: Alexander Pohl/ action pressDas Virus eindämmen, darum geht es jetzt. Keine Lage entstehen lassen wie in Italien, wo das Gesundheitssystem so überlastet, die Zahl der Erkrankten so hoch ist, dass Ärzte 80-Jährigen die Beatmungsgeräte wegnehmen müssen, um 60-Jährige zu retten. Es geht im Moment darum, Anweisungen von Experten zu befolgen, auch wenn man gesund ist, auch wenn man nicht zur Risikogruppe gehört. Aber was passiert, wenn dieser Moment vorbei ist? Bekommen die Bürger dann eingefangen, was mit dem Virus kam: die Einschränkung der Freiheitsrechte, die in 75 Jahren errungen und verteidigt worden sind? Die Einschränkung dessen, was den Geist von Schengen ausmacht, ein Europa ohne Grenzen?
In diesen Tagen geht es um zweierlei: achtsam zu sein, dass das Virus sich nicht ausbreitet, aber auch achtsam zu sein, dass das Wechselverhältnis aus Politik und Gesellschaft, das aus guten Gründen komplex angelegt ist, auch längerfristig komplex bleibt.
Die Demokratie ist handlungsfähig
Jeder ist hier gefragt, Politiker besonders, aber auch jede Bürgerin, jeder Bürger. Die Frage der Ausgangssperre zeigt das: Wollen wir Politiker, die drakonische Maßnahmen verhängen müssen, weil zu viele von uns nicht bereit sind, vernünftig zu sein und sich an die Regeln zu halten?
Demokratien wurde zuletzt von rechts wie von links gern vorgehalten, ihre liberalen Anführer seien nicht handlungsfähig genug. Es ist also ein gutes Signal, dass sie sich bisher als handlungsfähig erweisen, während populistische Anführer irrlichtern, wie Donald Trump es tut.
Dies ist tatsächlich die Stunde der Vernunft, und genau deswegen sollte eines nicht passieren: dass sich die Vertreter der liberalen Demokratie in ihrem Moment der Stärke den Gestus des Autoritären unnötig aneignen. Joe Biden, der Favorit der Demokraten im US-Wahlkampf, schlägt vor, das Militär einzuschalten. Es spricht nichts dagegen, Soldaten provisorische Krankenhäuser bauen zu lassen, aber ist es nötig, vom "Krieg gegen das Virus" zu sprechen, wie Biden und der französische Präsident es tun?
Hilfe als Mittel der Einflussnahme
Auf einmal gilt das autoritäre China vielerorts als Vorbild. Man muss der chinesischen Bevölkerung nicht mit Schuldvorwürfen kommen, weil das Virus dort entstanden ist, aber es ist durchaus Skepsis angebracht, wenn der Staats- und Parteichef "eine Seidenstraße der Gesundheit" anbietet, wie er es Italiens Staatschef gegenüber getan haben soll. Wenn China helfen kann, soll es das tun, aber allen muss bewusst sein, dass Xi Jinping die Angst vor dem Virus nutzen wird, um Einfluss in der Welt zu gewinnen.
Wie gesagt, es gibt Momente, in denen starke Führung berechtigt ist. Dieser Moment ist einer, die Finanzkrise im Jahr 2008 war einer, auch in der Klimakrise wäre mehr Gestaltungswillen der Regierungen willkommen.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Führung entlastet. Wie hätte ein einzelner Arbeitnehmer jetzt entscheiden können, ob eine Dienstreise vertretbar ist? Eine Situation wie diese war noch nie da, jemand muss Standards setzen. Somit ist es richtig, dass die Kanzlerin nun endlich die Führung übernommen hat. Das war spät, die "Bild"-Zeitung hatte Gelegenheit, ihr den "Klartext-Kanzler Kurz" aus Österreich vorzuhalten. Aber taugt Sebastian Kurz, der erst vor einem knappen Jahr an einer prekären Koalition scheiterte, so schnell wieder als Vorbild?
Echte Autorität will verdient sein
Markig formulieren zu können heißt noch nicht, echte Autorität genießen zu dürfen. Die verdient man sich mit der Zeit durch entschiedenes Handeln in einem Moment und Besonnenheit im anderen. Schneller, strammer, härter - das ist kein Wert an sich. Die Ausweitung des Kurzarbeitergelds ist in Rekordzeit beschlossen worden. "Mehr Tempo in der deutschen Politik" zu fordern, wie es der bayerische Ministerpräsident Markus Söder genau in den Tagen getan hat, in der Politik nachweislich schnell gewesen ist, legt eher das eigentliche Motiv des Fordernden offen: als derjenige zu gelten, der es besser kann.
Ein Extremzustand muss genau das bleiben: extrem, gemessen am Normalzustand. Die Demokratie braucht das Wechselverhältnis aus "checks and balances", sie braucht die Befähigung zur Machtausübung und die Kontrolle der Macht. Es darf nicht vergessen werden, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes die Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat formuliert haben. Unsere Verfassung will starke Bürgerinnen und Bürger.
Aus diesen Bürgerrechten ergibt sich aber eben auch eine Bürgerpflicht. Nämlich als Bürger im Moment der Not im Sinne einer sowohl liberal angelegten, aber auch entschlossen handelnden Politik vorzugehen und - ob man sie nun mag oder nicht, ob man ihr politisch in allem folgen möchte oder nicht – auf eine Kanzlerin zu hören, die in ihrer Fernsehansprache vom Mittwoch an die Vernunft der Bürger appelliert hat, eine Ausgangssperre nicht gewollt hat, aber sich offen lassen musste, eben doch eine zu verhängen, wenn zu viele Bürger nicht vernünftig reagieren.
Zugleich sollten die Vertreter der Obrigkeit, wenn sie jetzt strammes Verwaltungshandeln verkünden, stets mit sagen, dass das nur für den Moment gilt. Mitzuformulieren, dass dieser Staat freiheitlich gedacht ist, wie es die Kanzlerin in ihrer Ansprache vom Mittwoch durchaus gemacht hat, kostet nichts und bringt viel. Es stärkt das Bewusstsein für die Kraft des Staates, die im Ausgleich der Interessen und einer Handlungsfähigkeit auf kurze und auf lange Sicht liegt.