Kritik an deutschem Vorschlag "Rechtsstaatsverletzern drohen keine Sanktionen"

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft will Länder bestrafen, die gegen EU-Rechtsstaatsprinzipien verstoßen. Doch der Entwurf dazu sei viel zu schwach, kritisiert Lucas Guttenberg.
Ein Interview von Jan Puhl
Ungarns Premier Viktor Orbán und Polens starker Mann Jaroslaw Kaczynski als Karnevalsfiguren: Offener Verstoß gegen EU-Prinzipien

Ungarns Premier Viktor Orbán und Polens starker Mann Jaroslaw Kaczynski als Karnevalsfiguren: Offener Verstoß gegen EU-Prinzipien

Foto: Martin Meissner/ AP

SPIEGEL: Die Regierungen in Polen und Ungarn stehen in der Kritik, weil sie systematisch den Rechtsstaat zurückbauen. Dagegen soll sich Brüssel jetzt wappnen. Künftig sollen einem Land im Falle solcher Verstöße die Gelder gekürzt werden. Welche Vorschläge für einen Rechtsstaatsmechanismus konkurrieren?

Guttenberg: In den letzten Jahren häufen sich die Fälle, in denen einige Länder offen gegen EU-Prinzipien verstoßen - und gleichzeitig erheblich von EU-Hilfen profitieren. Die EU-Kommission hatte schon vor zwei Jahren einen Vorschlag vorgelegt, wie dem zu begegnen sei. Danach sollen Gelder blockiert werden, solange ein Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit ein "Risiko" für die Verwendung dieser Mittel bedeutet.

Zur Person
Foto: Laura Morton

Lucas Guttenberg, 31, hat Politikwissenschaft und Volkswirtschaft in Paris, an der Columbia University und der Harvard Kennedy School in den USA studiert. Er arbeitete bei der Europäischen Zentralbank und ist heute stellvertretender Direktor des Jacques Delors Centre an der Berliner Hertie School. Guttenberg ist Spezialist für das deutsch-französische Verhältnis. Er forscht zur Reform der Eurozone und zur Rolle der Bundesrepublik in der Europäischen Union.

SPIEGEL: Was war damit gemeint? Was hat das Thema Rechtsstaatlichkeit damit zu tun, wie ein Staat Brüsseler Hilfen für Straßenbau oder neue Turnhallen verwendet?

Guttenberg: Solch ein "Risiko" - das Wort ist wichtig - besteht zum Beispiel in einem Land, in dem die Justiz nicht mehr unabhängig ist. In diesem Fall kann man davon ausgehen, dass Ermittlungen nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden, etwa wenn EU-Gelder korrupt veruntreut wurden. In solch einem Fall hätte die Kommission dem Rat der Mitgliedstaaten finanzielle Sanktionen vorschlagen können.

SPIEGEL: Aber dieser Vorschlag ist vom Tisch.

Guttenberg: Stattdessen wird nun ein zahnloser Entwurf der Bundesregierung diskutiert, den diese in ihrer Funktion als derzeitige Ratspräsidentschaft vorgelegt hat.

SPIEGEL: Inwiefern wurde die Idee entschärft?

Guttenberg: Nach dem Entwurf der Bundesregierung müsste die EU-Kommission jeweils nachweisen, dass ein Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzipien direkte und deutliche Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geldern hat. Das ist natürlich im Einzelfall sehr schwer zu bewerkstelligen. So können sich Rechtsstaatsverletzer ziemlich sicher sein, dass ihnen aus Brüssel weiterhin keine Sanktionen drohen.

"Das halte ich für eine Nebelkerze"

SPIEGEL: Warum ist die Bundesregierung so vorsichtig?

Guttenberg: Sie behauptet neuerdings, schon rechtlich sei nicht mehr drin. Das steht in einem krassen Widerspruch zur Linie der letzten Monate, in denen ein starker Mechanismus der Bundesregierung ein zentrales Anliegen war. Es unterstellt auch, die Kommission habe einen Europa-rechtswidrigen Vorschlag vorgelegt. Das halte ich für eine Nebelkerze. In Wahrheit geht es darum, mit dem Vorschlag ein Veto von Ungarn und Polen gegen die Corona-Hilfen zu verhindern. Der Rechtsstaatsmechanismus, die Aufbauhilfen und der nächste siebenjährige EU-Haushalt sind am Ende ein großes Paket, dem alle zustimmen müssen.

SPIEGEL: Warschau und Budapest haben also einen langen Hebel in der Hand?

 Guttenberg: Naja, nicht unbedingt. Neben den Mitgliedstaaten muss dem Haushalt ja auch das Europaparlament zustimmen. Ich hoffe, dass von dort Druck kommt, den Rechtsstaatsmechanismus mit schärferen Zähnen zu versehen. Und wir sollten nicht vergessen, dass auch Länder wie Ungarn und Polen auf EU-Gelder angewiesen sind und gerade Polen auch stark von den Corona-Hilfen profitiert. Beide haben am Ende ein großes Interesse daran, dass es zu einer Einigung über das gesamte EU-Haushaltspaket kommt.

SPIEGEL: Aus Polen und Ungarn hört man regelmäßig den Vorwurf, die EU-Kommission sei ein politisches Gremium. Sie entscheide nicht objektiv, weil dort die großen, alten EU-Länder wie Deutschland und Frankreich dominierten.

"Die EU-Kommission ist Hüterin der Verträge"

Guttenberg: Das Argument halte ich für vorgeschoben, die Kommission ist nun mal die Hüterin der Verträge. Sie kann übrigens heute schon Mitgliedsländern Gelder streichen - nämlich wenn diese gegen Haushaltsregeln verstoßen. Es passt einfach nicht zusammen, dass einem Land Kürzungen drohen, wenn es die Defizitkriterien verletzt - aber nicht, wenn es die Unabhängigkeit der Gerichte beschneidet.

SPIEGEL: Ist es nicht ein sehr grobes Instrument, einem Land einfach pauschal EU-Gelder zu streichen?

Guttenberg: Die Kommission wird im Falle eines Rechtsstaatsverstoßes auswählen müssen, welche Hilfen genau sie zurückhält - allerdings setzt das natürlich voraus, dass der Mechanismus überhaupt stark genug ist, um genutzt zu werden. Es muss dann darum gehen, nicht diejenigen zu treffen, die gar nichts dafür können, dass die Regierung EU-Prinzipien verletzt.  

SPIEGEL: Also etwa liberale Städte. Die Bürgermeister von Danzig, Poznan und Budapest lehnen sich seit Langem gegen die Zentralregierungen auf.

Guttenberg: Die Sanktionen müssten so zugeschnitten sein, dass sie verhältnismäßig sind, je nachdem wie schwer ein Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit ist. Und sie sollten nicht gerade proeuropäische Regionen und Kräfte treffen.

SPIEGEL: Ist den rechtsnationalistischen Kräften wie in Polen oder korrupten Machtpolitikern wie in Bulgarien überhaupt beizukommen, indem man ihnen den Geldhahn abdreht. Sie hetzen doch, wie etwa Viktor Orbán in Ungarn, ohnehin gegen die EU?

Guttenberg: Länder, die Nettoempfänger sind, kann das sehr wohl empfindlich treffen. Das eigentliche Problem aber ist, dass es innerhalb der ganzen EU noch nicht wirklich einen Konsens gibt, solche Prinzipienverstöße zu ahnden. Wir haben ja nicht nur Polen und Ungarn, es gibt eine ganze Reihe von Ländern mit Problemen. Schauen wir nur auf die Proteste in Bulgarien in diesem Sommer. Der EU fehlt weiter ein wirksames Mittel, Rückschritte bei Rechtsstaatlichkeit wirksam zu bekämpfen, sobald ein Land Mitglied geworden ist. Das wird uns noch lange beschäftigen.

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