EU-Corona-Gipfel Europas Mr. Nee, nee, nee

Niederländischer Ministerpräsidet Mark Rutte: Die "Polizei von Europa"?
Foto:Francisco Seco/ AP
Irgendwann während des Abendessens platzte dem bulgarischen Premier Bojko Borissow der Kragen. Mark Rutte, der niederländische Regierungschef, führe sich auf wie "die Polizei von Europa", schimpfte Borissow, der früher einmal Karatetrainer der bulgarischen Nationalmannschaft war und sich derzeit in seiner Heimat mit Korruptionsvorwürfen herumplagen muss.
So berichten es Diplomaten. Seine Forderungen hätten manche seiner Kollegen "irritiert" zurückgelassen, bestätigte Rutte nach dem Dinner. Dabei würde er nicht anders für die Interessen seines Landes kämpfen als alle anderen auch, sagte er vor Journalisten.
Was ist geschehen? Die Staats- und Regierungschefs gingen in der Nacht zum Samstag nach 13 Stunden Verhandlungen auseinander, ohne dass es nur ansatzweise einen Durchbruch gegeben hätte. Im Zentrum stand bis zum Schluss die Forderung der Niederlande, bei der Vergabe der Gelder aus dem geplanten Corona-Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro ein Vetorecht zu bekommen.
Rutte will so sicherstellen, dass die Zuschüsse in Höhe von 500 Milliarden Euro sinnvoll eingesetzt werden. Diese Sorge teilen auch andere Staats- und Regierungschefs, Einstimmigkeit bei der Mittelvergabe halten sie allerdings für wenig praxistauglich. Italien, Spanien und andere südliche EU-Länder lehnen diese und andere Einschränkungen rundweg ab. Sie fürchten, die sogenannte Troika, die bei der Eurorettung für so viel böses Blut gesorgt hatte, könnte wieder auferstehen.
Die EU-Kommission will Ländern, die unter der Coronakrise wirtschaftlich besonders leiden, 750 Milliarden Euro zukommen lassen, 500 Milliarden Euro davon als Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden sollen. Die Niederlande (und einige andere Länder) wollen dies nicht. Dazu kommt der nächste Siebenjahreshaushalt in Höhe von noch einmal über einer Billion Euro, der, wenn es nach den Niederlanden und ihren Verbündeten geht, auch noch etwas schrumpfen dürfte.
Kompromissvorschlag zum Heilbutt
Doch genauso groß wie die Summen ist die Zahl der offenen Fragen beim Gipfel. Es geht um die Höhe von Wiederaufbaufonds und Haushalt, um die Frage, nach welchen Kriterien die Gelder verteilt werden sollen und welche Rolle der Rechtsstaat dabei spielen soll, sowie Hunderte weitere Details.
Am Freitag berieten die Staats- und Regierungschefs ab 10.25 Uhr erst einmal gemeinsam im fünften Stock des Europagebäudes. Nach einer Pause - mit einer getrennten Unterredung zwischen dem Ratspräsidenten Charles Michel und Rutte - ging es dann kurz nach 21 Uhr mit dem Abendessen weiter. Zum Dinner ließ Michel nicht nur Heilbutt servieren, sondern auch einen Kompromissvorschlag, der Ruttes Herzensanliegen aufgreifen sollte: eine möglichst große Kontrolle über die Auszahlung der Corona-Hilfsgelder.
Gebracht hat es erst einmal nichts.
Am Samstag will man sich nun um 11 Uhr wieder treffen, viel wird davon abhängen, ob der Frust vom Dinner verflogen ist. Am Nachmittag dürften der Belgier Michel und Angela Merkel - Deutschland hat derzeit die rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne - dann entscheiden, ob es Sinn macht, in eine weitere Verhandlungsnacht zu gehen.
Rutte will das Prinzip der Zuschüsse nicht, er weiß aber natürlich, dass er es am Ende nicht komplett verhindern kann. Daher drängt er auf eine möglichst scharfe Kontrolle darüber, wohin das Geld fließt. Allein der EU-Kommission wollen die Niederländer die Entscheidung, wer die Corona-Milliarden wofür ausgeben darf, keinesfalls überlassen.
Das ist verständlich, denn nicht nur Rutte ist der Satz des ehemaligen Kommissionschefs Jean-Claude Juncker in Erinnerung. Als der einmal gefragt wurde, warum die Kommission die Franzosen zum wiederholten Male mit Verstößen gegen die Verschuldensregeln des Stabilitätspakts habe davonkommen lassen, hatte der geantwortet: "Weil es Frankreich ist."
Ratspräsident Michel versuchte, Rutte beim Dinner am Freitagabend mit einem Kompromiss zu locken. Er sieht eine Art Notbremse bei der Vergabe der Gelder vor: Der Rat und damit die Mitgliedsstaaten können eingeschaltet werden, wenn EU-Mitglieder Zweifel daran haben, dass die Corona-Milliarden zweckgemäß verwendet werden. Rutte konterte und forderte, dass ein einziges Land diesen Stoppmechanismus auslösen können sollte.
Kurz: Ohne Reformen verpuffen die Hilfen
Um bei den Verhandlungen mehr Gewicht zu haben, haben sich die Niederlande mit Österreich, Dänemark und Schweden zusammengeschlossen, die Gruppe firmiert in Brüssel unter dem Kampfnamen "Sparsame Vier".
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz machte am Freitag ganz in diesem Sinne klar, dass er die Summe der Zuschüsse drücken will und auch sonst fest an Ruttes Seite steht. "Wenn das Geld nicht in Zukunftsinvestitionen verwendet wird, wenn es nicht auch Hand in Hand geht mit notwendigen Reformen in Staaten, die schlicht und ergreifend in ihren Systemen kaputt sind oder zumindest große Probleme haben, dann wird all das verpuffen."
Der Niederländer Mark Rutte sieht das ganz genauso. Der Liberale ist seit zehn Jahren Premierminister, eine aktivere Rolle in Brüssel spielt er erst seit dem Brexit-Referendum. Früher, als die Briten noch in der EU dabei waren, konnten sich die Niederländer gut hinter London verstecken, wenn es darum ging, sich für eine liberale, wirtschaftsfreundliche und weltoffene EU einzusetzen. Jetzt muss Rutte das selbst erledigen.
Und in der Eurokrise, da halfen die Deutschen. Geld für angeschlagene Länder gab es nur gegen strenge Auflagen, die von der verhassten Troika überwacht und selbstverständlich zurückgezahlt werden mussten. Vorbei. Jetzt streitet Merkel gemeinsam mit dem Franzosen Emmanuel Macron dafür, dass der EU 500 Milliarden Euro als Zuschüsse ausreichen.
"Ministerpräsident Rutte hat erkannt, dass die Niederlande in Europa eine Führungsrolle annehmen müssen, wenn sie ihre Interessen durchsetzen wollen", sagt der FDP-Bundestagsabgeordnete Otto Fricke, der Rutte und die Niederlande gut kennt. Rutte steht in den Niederlanden derzeit an der Spitze einer Vier-Parteien-Koalition. Einige seiner Partner, etwa die Christdemokraten, zu denen Finanzminister Wopke Hoekstra zählt, treten in Brüssel noch schärfer auf als der Premier.
Im nächsten März stehen Wahlen an, es wird knapp, und Geld für Südeuropa ist nicht populär. Umfragen für die Zeitung "de Volkskrant" zeigen, dass 61 Prozent der Niederländer den Wiederaufbaufonds ablehnen. Ende April sorgte ein kleines Video auf Twitter für Furore: Ein Müllmann rief Rutte zu, er solle auf keinen Fall Geld an Italiener oder Spanier geben. "Nee, nee, nee", rief Rutte zurück.
Ohne Chopin unter dem Arm
Mark Rutte weiß, dass es ernst ist. Ein Buch, wie beim letzten Haushaltsgipfel im Februar hat er dieses Mal nicht dabei. Bevor es richtig losgeht beim EU-Gipfel, gibt Rutte am Freitagmorgen vor der niederländischen Vertretung noch ein paar Statements ab, das Interesse der Journalisten ist groß.
Anders als im Februar, als Hobbypianist Rutte mit Verweis auf die Chopin-Biografie in seinem Gepäck ätzend-lässig demonstrieren wollte, für wie sinnlos er die Haushaltsgespräche halte, versucht er sich nun als harter, aber seriöser Verhandler in Szene zu setzen.
Um eine Biografie zu lesen, so sagt er, bliebe dieses Mal keine Zeit. Es werde gearbeitet. Die Chancen eines Deals taxierte Rutte am Freitagmorgen auf "unter 50 Prozent". Nun hat er es selbst in der Hand.