Rechtsstaat-Streit mit der EU Polens Corona-Strategie droht zum Bumerang zu werden

PiS-Chef Kaczynski: Die EU redet, Polens Regierung schafft Tatsachen
Foto: WOJTEK RADWANSKI / AFPVor kontroversen Bildern, so viel scheint klar, fürchtet sich Polens nationalkonservative Regierung nicht mehr. Vergangene Woche ließ die Staatsanwaltschaft Poznan den Anwalt Roman Giertych festnehmen und in Handschellen abführen - öffentlichkeitswirksam beim Verlassen eines Gerichts. Anschließend durchsuchten maskierte Fahnder seine Villa in Warschau. Giertych erlitt einen Schwächeanfall und landete im Krankenhaus, Fotos zeigten ihn beim Abtransport im Krankenwagen. Eine Staatsanwältin verfolgte ihn bis ans Bett und trug ihre Vorwürfe vor - obwohl Giertych, so zitieren Zeitungen aus einem Protokoll , bewusstlos war.
Was den Fall brisant macht: Giertych ist in Polen einer der prominentesten Kritiker von Jaroslaw Kaczynski, dem Chef der regierenden PiS-Partei und eigentlichen Machthaber Polens. Von 2006 bis 2007 waren die beiden noch in einer Koalition, Giertych stand damals der Partei Liga polnischer Familien vor. Doch das Bündnis zerbrach - und jetzt, so sehen es viele Kommentatoren, missbraucht Kaczynski die Staatsmacht, um Giertych kaltzustellen. Das Signal an alle seine Gegner: Wer aufmuckt, muss mit öffentlicher Demütigung und Anklage rechnen.

Anwalt Giertych vor dem Transport im Krankenhaus: An diktatorische Schaujustiz erinnernde Festnahme
Foto: WOJCIECH OLKUSNIK/EPA-EFE/ShutterstockDer Fall schlägt nicht nur in Polen Wellen, er wurde auch in Brüssel aufmerksam registriert. Dort verhandelt die Bundesregierung für die anderen EU-Staaten gerade mit dem Parlament über den nächsten Siebenjahreshaushalt der EU und das Corona-Wiederaufbaupaket. Es geht um die Rekordsumme von 1,8 Billionen Euro - und um einen neuen Mechanismus, der es erstmals ermöglichen soll, Rechtsstaatssündern die EU-Mittel zu kürzen. Und er zielt auf Ungarn und vor allem auf Polen ab.
Polen ignoriert höchstrichterliche Anordnung
Die polnische Regierung aber scheint das nicht zu stören - im Gegenteil. Beinahe scheint es, als wolle die PiS-Regierung die EU weiter reizen. Zwar zeichnet sich ab, dass die PiS im Fall Giertychs eine Niederlage kassieren könnte. Eine Posener Richterin lehnte schon die Haftanträge gegen weitere mit Giertych festgenommene Geschäftsleute ab, die Beweise seien zu schwach. Doch die - an diktatorische Schaujustiz erinnernde - Festnahme ist längst nicht der einzige Akt, der zeigt, wie wenig noch von Polens Rechtsstaatlichkeit übrig ist. Ebenfalls vergangene Woche hob eine Disziplinarkammer zum ersten Mal die Immunität einer Richterin auf. Sie hatte sich öffentlich gegen die umstrittene PiS-Justizreform ausgesprochen.
Demnächst drohen weitere Urteile dieser Art, denn die PiS hat die Disziplinarkammer mit umfassenden Rechten ausgestattet. Dabei hat der Europäische Gerichtshof im April angeordnet, dass die Disziplinarkammer ihre Tätigkeit ruhen lassen muss, bis geklärt ist, ob sie unabhängig ist. Doch die Kammer arbeitet einfach weiter.
Dass ein EU-Land sich über ein Diktum des EuGH hinwegsetzt, ist aus Sicht von Juristen nicht nur ein brandgefährlicher Vorgang, der die Rechtsordnung der EU erschüttern könnte. Dass Polen dies ausgerechnet jetzt tut, zeigt auch, wie wenig die Regierung aus Brüssel befürchtet. "Die denken, die EU kann ihnen nichts", sagt der Grüneneuropaabgeordnete Daniel Freund. "Und damit haben sie womöglich sogar recht."
Erpressung mit dem Coronavirus
Tatsächlich scheinen Polen und Ungarn einen langen Hebel in der Hand zu halten: Sie können den EU-Haushalt mit ihrem Veto torpedieren. Vor der Coronakrise klang das noch nach einer leeren Drohung, denn ausgerechnet Polen und Ungarn profitieren von allen EU-Ländern am stärksten von EU-Geldern: Rund zwölf Milliarden Euro pro Jahr flossen zuletzt nach Warschau, fünf Milliarden nach Budapest. Daran soll sich auch im kommenden Siebenjahresetat nichts ändern, stattdessen könnten beide sogar noch mehr bekommen.
Momentan aber brauchen Corona-Krisenstaaten wie Italien und Spanien das Geld aus Brüssel noch dringender - was Polen und Ungarn eiskalt ausnutzen. Sollte der Rechtsstaatsmechanismus kommen, werde Polen den Haushalt blockieren, versprach PiS-Chef Kaczynski, der seit Kurzem auch Vizepremier ist: "Wir werden unsere Identität, unsere Freiheit und Souveränität um jeden Preis verteidigen. Wir lassen uns nicht mit Geld terrorisieren."
Bisher funktioniert die Strategie gut. Noch im Frühjahr wurde über einen Vorschlag diskutiert, laut dem die EU-Kommission selbst entscheiden sollte, wem wegen Rechtsstaatsverstößen das Geld gekürzt wird. Die Mitgliedsländer hätten das nur noch mit einer besonders großen Mehrheit abwenden können. Die Kommission hätte erstmals eine scharfe Waffe gegen Rechtsstaatssünder erhalten.
Doch der Plan wurde seitdem mehrfach verwässert. Beim EU-Gipfel im Juli beschlossen die Staats- und Regierungschefs, dass Sanktionen nur noch dann möglich sein sollen, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsländer dafür ist. Die Bundesregierung, die derzeit die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehat und die Verhandlungen mit Kommission und Parlament führt, hat den Mechanismus nun noch weiter verwässert: Er soll nur noch auf die Verwendung von EU-Geldern angewandt werden und hohe Hürden für den Nachweis von Verstößen enthalten.
"Man bekommt den Eindruck, dass die Bundesregierung nicht für den Rechtsstaat kämpft", sagt etwa der Grüneneuropaabgeordnete Daniel Freund. In der von Berlin vorgeschlagenen Form, so die im EU-Parlament verbreitete Befürchtung, würde der Mechanismus in der Praxis nie ausgelöst.
Schon der Gipfel im Juli sei "eine Nullnummer in Sachen Rechtsstaat" gewesen, sagt Manfred Weber, Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion im EU-Parlament, dem SPIEGEL. "Wenn es dem Europaparlament gelingt, trotzdem einen wirksamen Rechtsstaatsmechanismus im Haushalt zu verankern, wäre das ein historischer Erfolg." Auch der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner fordert "Härte gegenüber Ungarn und Polen". "Sonst müssen wir bald nicht mehr über Glaubwürdigkeit des europäischen Projekts reden."
Doch diese Glaubwürdigkeit droht nun erneut schweren Schaden zu nehmen. Denn die Veto-Drohung aus dem Parlament nimmt bisher kaum jemand ernst. Dass die Abgeordneten Haushalt und Corona-Paket torpedieren, ausgerechnet, wenn die zweite Welle der Seuche durch Europa rollt, gilt vielen in Brüssel als nahezu undenkbar.
Corona-Strategie droht zum Bumerang zu werden
Allerdings könnte die Sache für Polen und Ungarn doch noch unangenehm ausgehen. Denn anders als im Frühjahr, als die erste Corona-Welle fast spurlos an beiden Ländern vorübergezogen ist, trifft die zweite Welle sie nun mit voller Wucht. Auf den Corona-Karten der EU-Gesundheitsbehörde ECDC sind auch Polen und Ungarn inzwischen tiefrot .
Die Strategie, die Seuche als Druckmittel zu nutzen, droht für Kaczynski und Ungarns Regierungschef Viktor Orbán zum Bumerang zu werden. Die Zeit läuft jetzt auch gegen sie. Zudem sollen Polen und Ungarn auch beim Corona-Fonds zu den Topprofiteuren gehören, da das Geld in erster Linie nach dem üblichen EU-Schlüssel verteilt wird - und nicht anhand der Wirtschaftsschäden durch das Coronavirus. Laut Berechnungen aus dem Parlament würde Polen rund 29 Milliarden, Ungarn 6,6 Milliarden bekommen. "Ein Veto", meint CSU-Mann Weber, "ist deshalb unwahrscheinlich".
Auch die Bevölkerung der EU glauben die Abgeordneten auf ihrer Seite zu haben. Laut einer vom Parlament in Auftrag gegebenen, am Dienstag veröffentlichten Umfrage sind 77 Prozent der EU-Bürger dafür , die Achtung der Rechtsstaatlichkeit zur Bedingung für den Erhalt von EU-Mitteln zu machen. Selbst in Ungarn und Polen gab es jeweils 72 Prozent Zustimmung.
Populisten, so die Hoffnung im Parlament, könnte das nachdenklich stimmen.