
Europa und die Türkei Schaut auf dieses Land!


Frauenprotest in Istanbul
Foto: ERDEM SAHIN / EPASie sind trotzdem da. Trotz aller Rückschläge, trotz der Drohungen durch die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, trotz der Verhaftung Tausender Oppositioneller, gehen auch in diesen Tagen wieder Menschen, überwiegend junge Frauen, in Istanbul auf die Straße, um gegen den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zu protestieren – und für Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Demokratie.
Die türkische Politik hat, selbst nach ihren Maßstäben, eine verstörende Woche hinter sich: Am 17. März entzog eine Mehrheit im Parlament dem Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu das Mandat. Kurz darauf eröffnete die Oberstaatsanwaltschaft ein Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei, die linke, prokurdische HDP. Am nächsten Morgen ließ die Regierung Öztürk Türkdoğan festnehmen, den Chef der Menschenrechtsstiftung IHD. In der Nacht von Freitag auf Samstag schließlich bestimmte Erdoğan per Dekret den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und entließ den Chef der türkischen Zentralbank. Das alles kam nur zwei Wochen nachdem Erdoğan eine Menschenrechtsoffensive angekündigt hatte.
Es ist verstörend, wie ambitionslos die deutsche Politik ist
Der türkische Präsident verfolgt seit Jahren vor allem ein Ziel: die eigene Macht abzusichern. Doch die Bürgerinnen und Bürger in der Türkei tun ihm den Gefallen nicht, zu gehorchen. Auch jetzt ist der Widerstand spürbar, gehen Frauen für ihre Rechte auf die Straße, solidarisieren sich Oppositionelle mit Gergerlioğlu.
Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs am Donnerstag einmal mehr darüber beraten, wie sie mit der Türkei umgehen, sollten sie sich an diese Menschen erinnern.
Gerade Deutschland verfügt durch die gemeinsame Migrationsgeschichte über eine besondere Beziehung zur Türkei. Rund drei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben in der Bundesrepublik. Es ist verstörend, wie oberflächlich, ambitionslos, erratisch die deutsche Politik gegenüber Ankara ist.
Die Bundesregierung, so scheint es, interessiert sich nur dann für die Türkei, wenn Erdoğan Flüchtlinge nach Europa schickt oder deutsche Journalisten verhaften lässt. Es ist an der Zeit, dass sie eine mittel- bis langfristige, tragfähige außenpolitische Strategie entwickelt.

Präsident Erdoğan
Foto: Dimitar Dilkoff / AFPWenn es um Erdoğan geht, stehen die Dinge relativ einfach: Der Präsident trat einmal als Reformer an, hat sich inzwischen jedoch zu einem Autokraten entwickelt, der sein Land in Grund und Boden regiert. Die Wirtschaft liegt danieder, seine eigene Popularität schwindet. In seiner Not greift Erdoğan auf eine Methode zurück, die ihn bei vergangenen Wahlen stets zum Sieg verholfen hat: Er provoziert und polarisiert.
Erdoğan braucht einen Sündenbock für den Niedergang der Wirtschaft. Wenn die EU Sanktionen gegen die Türkei verhängt, wie es viele fordern, hätte er diesen gefunden.
Natürlich läge es nahe, die Regierung in Ankara für ihre Attacken auf die Demokratie zu bestrafen. Doch die EU-Staaten haben gegenüber der Türkei viel zu oft ihren Reflexen nachgegeben. Sie täten gut daran, diese diesmal zu unterdrücken. Je weniger Angriffsfläche sie Erdoğan in der gegenwärtigen Krise bieten, desto besser. Der Präsident schadet sich gerade selbst am meisten, wie die Demission des Zentralbankchefs beweist.
Die Endphase der Erdoğan-Herrschaft
Umgekehrt heißt das nicht, dass die EU auf Erdoğan zugehen sollte. Eine Erweiterung der Zollunion, wie sie manche EU-Offizielle Ankara in Aussicht gestellt haben, wäre ein Fehler. Dafür müsste Erdoğan zumindest politische Gefangene wie Osman Kavala oder den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş freilassen. Zugeständnisse ohne Gegenleistung wären zu diesem Zeitpunkt genauso falsch wie Sanktionen.
Die Europäer sollten Erdoğan auf Abstand halten, nicht jedoch die Türkei. Es ist in dieser Phase wichtiger denn je, Felder der Zusammenarbeit zu definieren.
Die Migrationspolitik könnte so ein Feld sein. Es ist durchaus im Interesse der EU, dazu beizutragen, dass die vier Millionen Menschen, die in der Türkei Schutz gefunden haben, anständig versorgt werden, dass die Kinder zur Schule gehen, dass die Erwachsenen Arbeit finden. Doch das darf nicht bedeuten, dass die Europäer weiter ihre eigene Verantwortung für Geflüchtete komplett abgeben.
Die EU muss sehr genau darauf achten, dass die Gelder, die sie der Türkei im Zuge des Flüchtlingsdeals zahlt, auch wirklich bei den Betroffenen ankommen. Sie muss sehr viel stärker als bisher in Umsiedlungen von Schutzsuchenden aus der Türkei nach Europa investieren. Vor allem aber muss sie die menschenunwürdigen Bedingungen für Geflüchtete auf den griechischen Inseln beenden, und sei es nur, um von Erdoğan weniger erpressbar zu sein.
Die Europäer sind in ihrer Politik gegenüber Ankara von der Sorge getrieben, dass eine Türkei ohne Erdoğan im Chaos versinken könnte. Die Sorge mag nicht ganz unbegründet sein – Erdoğan ist durchaus zuzutrauen, dass er das Land mit sich in den Abgrund reißt – doch sie führt zu nichts. Denn im Moment ist Erdoğan selbst das größte Hindernis auf dem Weg hin zu einer demokratischen, stabilen Türkei. Der Präsident befindet sich in der Endphase seiner Herrschaft.
Gerade jetzt wäre es wichtig, aktiv für die Ära nach ihm zu planen, Brücken zur demokratischen Opposition, zur Zivilgesellschaft zu bauen. In Istanbul, der größten Stadt des Landes, regiert mit Ekrem Imamoğlu ein Sozialdemokrat. Warum bemüht sich die EU nicht um intensiveren Kontakt zu ihm?
In Europa haben in den vergangenen Jahren viele die Türkei mit Erdoğan gleichgesetzt. Es ist an der Zeit, endlich das gesamte Land in den Blick zu nehmen.