Kenny:
»Ich war wie taub. Ich habe nichts gefühlt. Es war, als hätte ich einen Schlüssel genommen, meinen Kopf verschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Ich sagte mir: Es muss weitergehen! Ich bin wie ein Zombie die Straße entlanggelaufen.«
Kenny ist 20 Jahre alt, als sie zum ersten Mal mit einem Mann schläft. Sie kennen sich kaum. Wenige Wochen darauf merkt sie, dass sie schwanger ist.
Kenny:
»Ich war emotional nicht bereit dafür. Zu dem Zeitpunkt war ich nicht einmal finanziell dazu in der Lage. Wir hatten finanzielle Probleme, ich hatte meine Wohnung verloren, meine Mutter ihr Geschäft. Es war nicht mein Plan, mich um ein Kind zu kümmern, es war einfach nicht mein Plan.«
Lagos, Nigeria. Etwa 14 Millionen Menschen leben hier, täglich werden es mehr. Unter der Oberfläche spielt sich ein stilles Drama ab: Nirgendwo auf der Welt sterben so viele Frauen während der Schwangerschaft wie hier. Ein Grund dafür: Unsichere Abtreibungen. Tausende Frauen verlieren jedes Jahr wegen einer Abtreibung ihr Leben.
In Nigeria haben viele Frauen keinen Zugang zu Verhütungsmitteln, die Zahl ungewollter Schwangerschaften ist hoch. Strenge Gesetze machen eine legale Abtreibung für Frauen in den meisten Teilen des Landes praktisch unmöglich. Kenny will ihren richtigen Namen nicht nennen. Sie hat Angst davor, stigmatisiert zu werden. Als sie damals schwanger wurde, wusste sie nicht, woher sie Hilfe bekommen sollte. Deshalb ging sie in die Apotheke, um mit Medikamenten ihre Schwangerschaft zu beenden.
Kenny:
»Ich sagte: Meine Freundin ist schwanger, sie braucht Medikamente, um das Baby loszuwerden, sie kann es nicht behalten. Die Apothekerin sagte: ›Ok. Wir haben Misoprostol, oder so.‹ Sie hat es mir gegeben und sagte: ›Deine Freundin solle eine davon einführen, dann hat sich die Sache. Und wenn das nicht funktioniert, komm morgen wieder, wir haben noch ein anderes Medikament, das bald kommt.‹«
In Nigeria gibt es praktisch keine öffentliche Hilfe für Frauen, die ungewollt schwanger werden. Deshalb nehmen Frauen Medikamente ohne ärztliche Beratung oder vertrauen sich illegalen Abtreibungskliniken an.
Auch deshalb hat die britische Organisation MSI Reproductive Choices im Jahr 2009 ihr erstes Gesundheitszentrum als Marie Stopes Nigeria in Lagos eröffnet.
Odion Iseki, Krankenschwester bei Marie Stopes Nigeria:
»Frauen kommen aus unterschiedlichen Gründen zu uns: Manche lassen sich auf Geschlechtskrankheiten testen, andere auf Krebs. Etwa dreimal in der Woche kommt auch eine Frau, um sich nach einer Abtreibung medizinisch nachbehandeln zu lassen.«
Seit den 70er-Jahren bietet MSI weltweit Hilfe bei der Familienplanung an, berät zu Verhütungsmethoden und versorgt Frauen, die eine Abtreibung durchgeführt haben. Das macht sie immer wieder zu einem Ziel von Abtreibungsgegnern. Seit 2013 organisiert die spanische Organisation Citizengo weltweit Kampagnen gegen Frauenrechte. Sie wird durch Spenden finanziert und hält enge Verbindungen zur europäischen Rechten, zu Matteo Salvini und Viktor Orbán.
Im Frühjahr 2019 startet Citizengo eine Online-Kampagne gegen Marie Stopes Nigeria. Sie streuen Fake News, behaupten: MSI führe illegale Abtreibungen durch. Im Mai 2019 stürmt die Polizei das Gesundheitszentrum in Lagos. Sie konfiszierten Dokumente und nehmen einen Arzt fest. Er ist heute bereit über den Vorfall zu sprechen. Sein Gesicht will er im Interview nicht zeigen.
Dr. Bernard Fatoye, Arzt Marie Stopes Nigeria:
»Ich erinnere mich daran, dass ich einen Patienten bei mir hatte, und in diesem Moment stürzte eine Gruppe von Männern in das Behandlungszimmer. Sie haben gefragt: »Sind Sie Dr. Bernard? Sie sind festgenommen, Sie müssen mit uns zur Wache kommen, wir haben einen Haftbefehl gegen Sie.«
»Sie haben Angst verbreitet, besonders bei Frauen. Die lesen jetzt über Marie Stopes und dann sehen sie: Polizeieinsatz, Schließung, so etwas. Wir haben die Auswirkungen schon gespürt. Aber im Endeffekt sind wie hier, um ein Problem zu lösen.«
In Lagos lebt auch Obie Ideh. Sie ist Leiterin der »Foundation for African Cultural Heritage«, eine Art Dachverband für religiöse Gruppen, die gegen das Recht auf Abtreibung kämpfen. Ihr Verband arbeitet eng mit Citizengo zusammen.
Obi Ideh, Direktorin der Foundation for African Cultural Heritage:
»Die Familie ist der Grundstein, die wichtigste Einheit der Gesellschaft. Deswegen ist jede Handlung, jedes Gesetz, dass die Familie im Innersten angreift zentral für unsere Arbeit – und Abtreibung gehört dazu. Sie trifft ins Herz der Familie.«
Mit ihrer Ideologie ist Obi Ideh Teil eines weltweiten Netzwerkes von Abtreibungsgegnern, das mit Trumps Präsidentschaft Aufschwung bekommen hat. Donald Trump hat in den letzten Jahren mehrere hundert Millionen Dollar Hilfsgelder eingefroren, die für Verhütungsmittel und sichere Abtreibungen in Ländern wie Nigeria gedacht waren.
Obi Ideh, Direktorin der Foundation for African Cultural Heritage:
»Alle haben viel über Trumps Regierung zu sagen – für unsere Arbeit hatten sie einen enorm positiven Effekt, global und hier vor Ort.«
Auch der Polizeieinsatz bei Marie Stopes im vergangenen Jahr wurde von ihrer Stiftung initiiert, erklärt Obi Ideh. Unterstützt von Citizengo hatten sie die Kampagne gegen Marie Stopes Nigeria lange geplant.
Obi Ideh, Direktorin der Foundation for African Cultural Heritage:
»Als die Organisation nach Nigeria kam, wussten wir, dass wir es mit Lebensgegnern zutun hatten. Also beobachteten wir ihre Aktivitäten. Nach unserer Interaktion haben wir außerdem die Polizei eingeschaltet und die hat das Büro durchsucht. In einem offiziellen Statement erklärt Marie Stopes Nigeria: Man führe Abtreibungen ausschließlich im Rahmen der strengen Gesetze durch. Im Bundesstaat Lagos nur dann, wenn das Leben der Frau in Gefahr ist.«
Die Anschuldigungen gegen Marie Stopes werden nach kurzer Zeit fallen gelassen. Die Ärzte von Marie Stopes dürfen weiter behandeln.
Doch ein Ziel haben die Abtreibungsgner erreicht: Sie schüren Angst.
Kenny:
»Eine Sache muss sich ändern: die Einstellung der Leute. Dieser abschätzige Blick, mit dem Leute mich betrachten, der sagt: ›Du solltest dich schämen!‹ Es sollte einen sicheren Ort für Frauen geben, die eine Abtreibung wollen. Ein Ort, an dem wir es machen können, ohne dass wir dafür behandelt werden wie Kriminelle.«
Die Abtreibungsgegner von Citizengo haben sich Nigeria nicht ohne Grund ausgesucht.
Lange galt das Land als extrem konservativ in Sachen Abtreibungen. Doch die Gesellschaft öffnet sich. Immer mehr junge Frauen kämpfen für das Recht auf legale Abtreibung.
Eine von ihnen ist Oluwapelumi Alesinloye-King. Sie ist eine bekannte Aktivistin für das Recht auf Abtreibung.
Oluwapelumi Alesinloye-King, Aufklärungsaktivistin:
»So viele Beleidigungen – wenn ich die in einen Sack packen, zur Bank bringen und in Geld umwandeln würde, wäre ich eine reiche Frau. Sie sagen fiese Sachen: ›Ihr Abtreibungsaktivitinnen hattet zu viele Abtreibungen, ihr habt keine Gebärmutter mehr.‹ So viele Sachen, über die ich gar nicht erst reden will.«
Oluwapelumi klärt seit Jahren über Abtreibungen und Verhütungsmittel auf, hauptsächlich online. Und sie hat Hoffnung, dass sich der Diskurs langsam verschiebt.
Seit Beginn der Corona-Pandemie hat die Zahl häuslicher Vergewaltigungen stark zugenommen. Pelumi sagt, nie zuvor habe es so viel Bedarf an ihrer Beratung gegeben.