Streit über Rechtsstaatlichkeit Europaparlament startet Untätigkeitsverfahren gegen EU-Kommission

Die EU-Kommission soll nach dem Willen des Europaparlaments Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit schneller ahnden. Womöglich landet der Streit nun vor dem Europäischen Gerichtshof.
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Foto: Artjazz / imago images / Shotshop

Das Europaparlament übt Druck auf die EU-Kommission aus: Durch eine Untätigkeitsklage soll die Behörde gedrängt werden, eine neue Regelung anzuwenden, um Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in EU-Staaten zu ahnden. Die Regelung sieht vor, dass EU-Ländern Mittel aus dem Gemeinschaftshaushalt gekürzt werden können, wenn wegen Rechtsstaatsverstößen ein Missbrauch der Gelder droht. Das Europaparlament hat ein entsprechendes Verfahren nun eingeleitet.

Brisant ist dies vor allem deswegen, weil die EU-Kommission nach einer Einigung der Staats- und Regierungschefs eigentlich erst dann tätig werden soll, wenn der Europäische Gerichtshof über eine Klage von Ungarn und Polen gegen die neue Regelung entschieden hat. Mit diesem Zugeständnis waren die Regierungen in Budapest und Warschau im vergangenen Jahr dazu gebracht worden, ihre Blockade von wichtigen EU-Haushaltsentscheidungen aufzugeben.

Ungarn und Polen wehren sich gegen Rechtsstaatsklausel

Ungarn und Polen gehen davon aus, dass der sogenannte Konditionalitätsmechanismus, der finanzielle Hilfen mit Rechtsstaatlichkeitsstandards verknüpft, nicht mit dem geltenden EU-Recht vereinbar ist. So dürfen aus polnischer Sicht für die Vergabe von Geld aus dem EU-Haushalt einzig »objektive und konkrete Bedingungen« gelten. Die EU habe keine Befugnis, den Begriff »Rechtsstaat« zu definieren, heißt es.

Mit dem fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag aus dem Europaparlament soll der im vergangenen Dezember vereinbarte Kompromiss zwischen den Staats- und Regierungschefs nun aber ausgehebelt werden. In ihm wird argumentiert, dass die Verordnung für die Konditionalitätsregelung bereits am 1. Januar 2021 in Kraft getreten und seither anwendbar sei.

Konkret soll nun Parlamentspräsident David Sassoli die Kommission auffordern, den neuen Mechanismus sofort zu nutzen. Sollte die Behörde dann innerhalb von zwei Monaten nicht zufriedenstellend reagieren, könnte offiziell Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben werden. Dieser müsste dann entscheiden, ob die Kommission handeln muss oder ob sie sich an den Beschluss der Staats- und Regierungschefs halten kann.

Der Entschließungsantrag für das Untätigkeitsverfahren wurde am Donnerstagmittag mit breiter Mehrheit angenommen. 506 Abgeordnete stimmten dafür, 150 dagegen und 28 enthielten sich. Der Text war zuvor von Vertretern der christdemokratischen EVP, der Sozialdemokraten, der Liberalen, Grünen und Linken ausgehandelt worden.

Kommission verärgert über Vorgang

Für die EU-Kommission von Ursula von der Leyen ist der Vorstoß des Parlaments ärgerlich. Sie hatte den Kompromiss der Staats- und Regierungschefs im vergangenen Jahr unterstützt und argumentiert, dass durch den zeitlichen Aufschub kein einziger Fall verloren gehen werde. Zudem wies der zuständige Haushaltskommissar Johannes Hahn zuletzt darauf hin, dass bereits in der kommenden Woche ein Entwurf für Anwendungsleitlinien zu der Regelung vorgestellt werden solle.

Abgeordnete sehen dies allerdings nur als Ablenkungsmanöver. Leitlinien vorzulegen werde man nicht als Handeln akzeptieren, hatte bereits am Mittwoch der FDP-Abgeordnete Moritz Körner gesagt. Der Grünen-Politiker Daniel Freund sagte: »Wir wollen, dass die Kommission endlich alle Schritte unternimmt, um Rechtsstaat und Demokratie zu verteidigen.« Tue sie dies nicht, könnten irreparable Schäden angerichtet werden.

Von etwaigen Sanktionen könnten vor allem die Länder betroffen sein, die gegen die Regelung vor dem EuGH klagen. Sowohl Ungarn als auch Polen wird seit Langem vorgeworfen, ihren Einfluss auf die Justiz in unzulässiger Weise auszubauen. Zudem werden Einschränkungen der Medienfreiheit und zu wenig Schutz von Minderheiten bemängelt.

EU drängt Polen, Vorrang des EU-Rechts anzuerkennen

EU-Justizkommissar Didier Reynders hatte Polen zuletzt aufgefordert, den Vorrang von EU-Recht gegenüber nationalem Recht anzuerkennen. Konkret appellierte Reynders in einem Brief an den polnischen Europaminister Konrad Szymanski, eine Vorlage der Regierung beim polnischen Verfassungsgericht vom 29. März zur Überprüfung dieses Prinzips zurückzuziehen.

Erst am Mittwoch hatte die Kommission ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil zur Europäischen Zentralbank 2020 über einen Spruch des Europäischen Gerichtshofs hinweggesetzt hatte. Der von Reynders beschriebene Sachverhalt in Polen liegt ähnlich.

Reynders fordert eine Antwort Szymanskis binnen einem Monat. Man behalte sich vor, nötigenfalls die in den EU-Verträgen vorgesehenen Schritte einzuleiten, heißt es weiter.

Außerdem brachte das Europaparlament im Streit um mutmaßliche Interessenkonflikte des tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babiš ins Spiel, den neuen Rechtsstaatsmechanismus anzuwenden. In einer am Donnerstag angenommenen Resolution hieß es, die Kommission solle auch Babiš' Einfluss auf Medien und Justiz untersuchen. Gebe es Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien, solle sie den Mechanismus aktivieren.

mfh/dpa
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