Untersuchungen zum Fall Nawalny Die bulgarische Spur

Berliner Charité: Zwei Sanitäter schieben die Isolationskapsel, mit der Nawalny nach Berlin transportiert wurde
Foto: Odd Andersen / AFPBei den Nachforschungen zum Fall Alexej Nawalny untersuchen Experten einen Giftanschlag in Bulgarien. Dieser zeigt auffallende Ähnlichkeiten zum Fall des russischen Oppositionellen. Das ergaben gemeinsame Recherchen des SPIEGEL und der Investigativplattform Bellingcat.
Nawalny wurde laut einem Befund der Berliner Charité vergiftet. Ähnlich erging es im April 2015 dem bulgarischen Waffenhersteller Emilian Gebrew. Er hatte sich über ein plötzlich juckendes Auge gewundert - und war später kollabiert und ins Koma gefallen. Auch seinem Sohn und einem seiner Manager ging es plötzlich schlecht. Ärzte stellten eine Vergiftung fest, die verwendete Substanz konnten sie nicht ermitteln.
Gebrew überlebte den Anschlag nur knapp, die Verantwortlichen blieben zunächst im Dunkeln. Drei Jahre später brachen im britischen Salisbury der russische Ex-Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter in einem Park bewusstlos zusammen. In diesem Fall gelang es den Ermittlern, die genaue Substanz zu ermitteln: Die beiden waren mit dem extrem gefährlichen chemischen Kampfmittel Nowitschok vergiftet worden, einem sogenannten Organophosphat.
Ermittler und investigative Journalisten konnten die mutmaßlichen Täter enttarnen: Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU, deren Spuren nach Salisbury sie fast lückenlos nachvollziehen konnten. Skripal und seine ebenfalls erkrankte Tochter überlebten den Mordversuch.
Der Bulgare Gebrew konnte nach seiner Vergiftung nach etwa einem Monat aus dem Krankenhaus entlassen werden. Nur einen Monat nach seiner Entlassung musste Gebrew erneut mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus. Auch den zweiten mutmaßlichen Anschlag überlebte er.

Waffenfabrikant Gebrew: Vergiftet - aber mit welcher Substanz?
Foto:NIKOLAY DOYCHINOV / AFP
Als Gebrew von der Vergiftung in Großbritannien hörte, erkannte er auffällige Gemeinsamkeiten mit seinem Fall und wandte sich erneut an die Staatsanwaltschaft. Und siehe da: Einer der im Fall Skripal verdächtigen GRU-Mitarbeiter war kurz vor dem Anschlag auf Gebrew nach Bulgarien eingereist.
Journalisten von Bellingcat und SPIEGEL entlarvten weitere Verbindungen zwischen den beiden Mordversuchen und insgesamt acht an der Operation beteiligte GRU-Agenten. Erst Anfang dieses Jahres erhoben bulgarische Staatsanwälte Anklage gegen drei dieser GRU-Verantwortlichen. Sie hätten Gebrew "absichtsvoll mit einer unidentifizierten organophosphatischen Substanz ermorden" wollen, die "das Leben von vielen bedroht habe". Nachdem Gebrew die mutmaßlichen Urheber kennt, werden auch mögliche Motive deutlich. Er hatte sowohl nach Georgien als auch in die Ukraine Waffen geliefert, offenbar sehr zum Ärger mächtiger Männer.
Verräterische erste Nachrichten
Dass deutsche Mediziner nun im Fall Nawalny mit ihren bulgarischen Kollegen Kontakt aufgenommen haben, ist so nachvollziehbar wie brisant. Offensichtlich halten sie es für möglich, dass der gleiche oder sehr ähnliche Stoffe eingesetzt wurden. Laut der ersten Stellungnahme der Charité war Nawalny einem Wirkstoff aus der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer ausgesetzt - was Organophosphate einschließt, aber auch andere Substanzen.
Nach SPIEGEL- und Bellingcat-Informationen gehen die Spezialisten inzwischen davon aus, dass Nawalny einer Substanz dieser Familie der Organophosphate ausgesetzt war. Dazu gehören Insektizide wie E605 - aber auch Nervengifte wie Sarin und das noch potentere, in russischen Labors entwickelte Nowitschok. Die klassische Behandlung ist die Gabe von Atropin, wie von der Charité beschrieben.
Eine Vergiftung durch ein Organophosphat passt auch zu den ersten Nachrichten aus Omsk. Dort hieß es zunächst, die Substanz, der Nawalny ausgesetzt gewesen sei, gefährde auch andere, die Mediziner müssten Schutzkleidung tragen. Zudem wurde ihm auch dort offenbar sofort Atropin verabreicht. Die abschließende Diagnose der Omsker Ärzte nannte dann allerdings eine "Stoffwechselstörung" als Auslöser für Nawalnys ernsten Zustand. Viele Beobachter halten diese Erklärung für zweifelhaft.
Kremlsprecher Dimitrij Peskow hatte am Dienstag Zweifel an der Charité-Diagnose geäußert und deren "Eile" kritisiert. Vorwürfe aus Nawalnys Team, der Kreml und Präsident Putin persönlich steckten hinter der mutmaßlichen Vergiftung, wies er zurück.
Gift aus dem Labor
Sollte sich erhärten, das Organophosphate und womöglich gar solche aus der Nowitschok-Familie zum Einsatz kamen, dann wäre Nawalny womöglich ein weiteres Opfer einer unseligen Serie - bei der die Verantwortlichen offenbar gewillt sind, ihre Fingerabdrücke zu hinterlassen.
Zugleich stellen sich neue Fragen, denn derlei Substanzen können nicht nur in Flüssigkeiten, sondern auch durch Einatmen oder Hautkontakt verabreicht werden. Zudem sind sie, wie die Beispiele in Großbritannien und Bulgarien zeigen, offenbar schwer zu dosieren - in beiden Fällen gerieten Angehörige in Mitleidenschaft. Beim Anschlag auf Skripal war dessen Türklinke mit Nowitschok präpariert worden. In England starb später sogar eine gänzlich Unbeteiligte. Ihr Lebensgefährte hatte eine Flasche gefunden, in der das Gift mutmaßlich transportiert worden war. Er selbst erkrankte, die Frau überlebte den Kontakt mit dem Nervengift nicht.
Kampfstoffe auf der Basis von Organophosphaten (Phosphorsäureester) waren ursprünglich eine deutsche Erfindung. Aus den Versuchen, besonders wirksame Insektizide zu entwickeln, gingen in den Dreißigerjahren die Nervengifte Tabun (1936) und Sarin (1939) hervor. Von den Siebzigerjahren an entwickelte das sowjetische Militär in einem geheimen Programm immer leistungsfähigere Nervenkampfstoffe auf der Basis von Organophosphaten.
Die Öffentlichkeit erfuhr von der Existenz der sogenannten Nowitschok-Gruppe bis dato unbekannter äußerst starker Nervengifte erst Anfang der Neunzigerjahre durch einen beteiligten Wissenschaftler.