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Femen - Ein Jahrzehnt Protest für Frauenrechte

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Maria Feck/ DER SPIEGEL

Femen-Aktivistin Inna Schevchenko Die Feministin, die keine mehr sein will

Junge Ukrainerinnen demonstrierten einst mit nackten Brüsten für Frauenrechte. Sie nannten sich Femen. Doch es ist still geworden um die Gruppe. Was ist aus ihr geworden?
Aus Paris berichten Maria Stöhr und Maria Feck (Fotos)

Die Frau, die sagt, man habe ihr schon drei Mal das Leben nehmen wollen dafür, dass sie den Leuten ihre Brüste entgegengestreckt hat, ist am Tag des Kampfes, ihres Kampfes, nicht da. Die Arbeit auf der Straße, sagt sie, sollen jetzt andere machen.

Als die Bengalos zünden und der Pariser Place de la Concorde in lila Wolken versinkt, als 50 halb nackte Frauen durch den zugigen Märzmorgen rennen, von den Polizisten weg, die Plakate in die Höhe gereckt, ist Inna Schevchenko, 29 Jahre, 500 Kilometer weit weg von Paris, um in Amsterdam eine feministische Rede vorzubereiten.

Inna Schevchenko ist das Idol der Femen-Bewegung, jener Frauen, die sich aus Protest ausziehen. Bevor sie den Zug nach Amsterdam bestieg, hatte sie die Frauen noch einmal eingeschworen. Dass sie laut sein sollten und unerbittlich. Dass ihnen klar sein müsse, dass sie von der Polizei festgenommen werden könnten. Dass Kameras auf sie gerichtet sein werden. Wer jetzt Schiss bekomme, hatte sie gesagt, könne immer noch gehen. Alle anderen: Allez!

Dann zogen die Femen-Frauen ohne ihre Anführerin zum Ort des Protests, einem großen Platz östlich der Champs-Élysées, in dessen Mitte ein Obelisk wie ein Phallus ragt. Hier sollte zum Weltfrauentag am 8. März, kurz bevor ganz Europa in den Corona-Lockdown verschwand, die Aktion starten. Sie querten die Seine, zogen vorbei am Louvre. Dann warfen sie alle gleichzeitig ihre Kleider zu Boden, entblößten die Schriftzüge auf ihren Oberkörpern. Schrieen die Parolen, die sie geübt hatten.

Weltfrauentag am 8. März, Paris: Femen-Frauen demonstrieren mit Corona-Motto gegen eine "patriarchale Pandemie"

Weltfrauentag am 8. März, Paris: Femen-Frauen demonstrieren mit Corona-Motto gegen eine "patriarchale Pandemie"

Foto: Maria Feck/ DER SPIEGEL

Seit mehr als einem Jahrzehnt ziehen sich Anhängerinnen der Gruppe Femen aus, um für die Rechte der Frau zu demonstrieren. Inna Schevchenko ist eine Rebellin der ersten Stunde. Es gab eine Zeit, in der sie und die anderen mit jeder Aktion in den Zeitungen landeten. Sie wurden geliebt und gehasst, manche gefoltert und verfolgt. Frauenrechtlerinnen diskutierten, ob dieses Zurschaustellen der Nacktheit dem Feminismus eher schadet oder nützt - ob die Gruppe damit selbst zu einem Sex-Objekt würde, oder ob sie ihre Brüste zu Waffen machten, für die Freiheit der Frau.

Das ist lange vorbei. Zwar gehen Frauen heute zu Hunderttausenden auf die Straßen, gegen Gewalt und Morde; die #MeToo-Bewegung legte Tausende Fälle von Missbrauch und sexueller Gewalt offen.

Aber Frauen, so scheint es, brauchen keine nackten Brüste mehr, um gehört zu werden. Um Femen ist es still geworden.

Ihre Gründungsriege ist zerschlagen, lebt zerstreut in Europa. Doch es gibt Femen noch. Die Zentrale liegt jetzt nicht mehr in Kiew, sondern in Paris. Und Inna Schevchenko ist ihre Chefin, seit acht Jahren lebt sie in Frankreich in politischem Asyl.

Aber wer geht heute noch mit Femen auf die Straße?

Zwei Kreise, ein senkrechter Strich: Im Probenraum malen sich Frauen gegenseitig das Femen-Logo auf

Zwei Kreise, ein senkrechter Strich: Im Probenraum malen sich Frauen gegenseitig das Femen-Logo auf

Foto: Maria Feck/ DER SPIEGEL

Freitagabend, 19.30 Uhr, Quartier Saint-Germain-des-Prés. Eine Holztür öffnet sich in einen Innenhof, in dem Anfang März schon ein paar Topfrosen blühen; "Espace des Femmes", Raum für Frauen, steht über dem Eingang des Hauses, ein Satz wie ein Programm. Denn drinnen üben 50 Femen-Aktivistinnen den Aufstand.

Viele sind zum ersten Mal gekommen, maximal zweites Semester, zaghaft gehen sie ihre ersten Schritte in die Rebellion: Hier wird die Choreografie für den Protest einstudiert, die Protestklamotten anprobiert, hier sollen die Frauen sich gemeinsam ein paar provokante Sprüche überlegen, die sie bei ihrer Aktion brüllen. Das Motto für den Protest steht schon fest: das Coronavirus.

Die Teilnehmerinnen sollen sich einen weißen Anzug überstreifen, dessen Ärmel sie unterhalb des Bauchnabels knoten. Sie ziehen sich Schutzbrillen auf die Gesichter, wie ein Seuchenkommando. Auf ihre nackten Oberkörper pinseln sie sich mit lila Wasserfarbe gegenseitig das Femen-Logo: links und rechts je einen Kreis, getrennt durch einen senkrechten Strich. Dann stellen sie sich in Reihen auf.

Eine Künstlerin stellt Femen die Räume in Paris zur Verfügung. Hier wird der Aufstand geprobt

Eine Künstlerin stellt Femen die Räume in Paris zur Verfügung. Hier wird der Aufstand geprobt

Foto: Maria Feck/ DER SPIEGEL

Der Raum, in dem sie proben, ist wie ein Ballettsaal, hier die Tanzfläche, dort ein breiter Spiegel, in dem man sich selbst beim Üben zusehen kann. In einer Ecke steht ein Tisch mit Torte und Apfelsaft.

Mittendrin Inna Schevchenko. Für die Mädchen ist sie die Frau, die weiß, dass man, um ein Plakat richtig zu halten, die Arme ganz durchstrecken muss, wie ein V, damit man mit der Botschaft nicht sein Gesicht verdeckt. Sie ist die Frau, die steht, wenn alle sitzen, die Frau, die vor langer Zeit einmal mit einer Motorsäge ein großes Holzkreuz in Kiew fällte, als Solidaritätsaktion mit der russischen Punkband Pussy Riot .

Inna Schevchenko: "Es könnte sein, dass euch die Polizei festnimmt"

Inna Schevchenko: "Es könnte sein, dass euch die Polizei festnimmt"

Foto: Maria Feck/ DER SPIEGEL

Ein Jahrzehnt kann eine lange Zeit sein für eine Bewegung. Man könnte mit Blick auf diese Veranstaltung in diesem Ballettsaal die Frage stellen, wo Femen die Luft ausgegangen ist, oder anders: Was bringt eine junge Frau noch heute dazu, Inna Schevchenko als Idol zu sehen?

Frage an eine Teilnehmerin, 24 Jahre.

Warum marschierst du bei Femen mit?

"Weil ich keine Lust habe, dass jeden Tag irgendwo eine Frau umgebracht wird, nur weil sie eine Frau ist."

Warum ziehst du dich dafür aus?

"Ich nutze meinen Körper, um Politik zu machen."

Findest du, dass der Feminismus der vergangenen Jahre etwas erreicht hat?

"Was erreicht? Für’n Arsch."

Oxana Schatschko, Anna Hutsol, Sascha Schevchenko, so hießen die Frauen, die in Kiew Femen gründeten. 2008 war das, sie kamen aus einer Provinzstadt im Westen der Ukraine. Sehr jung waren sie damals, vielleicht 17 Jahre, fast noch Mädchen. Was sie lostraten, war eine Rebellion gegen die Enge und das Leben, das die postsowjetische Gesellschaft für sie bereithielt. Gegen Prostitution, gegen die Religion, gegen die mächtigen Männer, Putin, Janukowitsch, Berlusconi.

Irgendwann fingen sie an, sich ihre Rebellion auf die Brüste zu schreiben. Es dauerte nicht lange, bis überall auf der Welt Bilder von jungen Frauen in den Zeitungen landeten, barbusig, die Fäuste geballt. Postergirls des feministischen Protests. Hunderte Frauen von überall her schlossen sich ihnen an und zogen sich aus.

"Was an der Forderung ist bitte radikal, dass Frauen frei leben und sich äußern, ohne dafür bestraft zu werden?"

Inna Schevchenko

Oxana, Sascha, Anna, Inna, sie sind schon lange keine Einheit mehr. Alle flüchteten wegen politischer Verfolgung ins Ausland, dort zerfiel die Gruppe. Anna ging erst in die Schweiz, dann zurück in die Ukraine, Sascha, Oxana und Inna stritten sich über die Zukunft von Femen in Frankreich. Im Sommer 2018 wurde Oxana Schatschko tot in ihrer Pariser Wohnung aufgefunden. Übrig geblieben ist Inna Schevchenko.

Sie empfängt zum Gespräch in einem Tagescafé, in dem auch Steak serviert wird, mit weißen Markisen und verspiegelten Wandtafeln. Sie bestellt ein Croissant, "es tut mir leid, aber ich bin immer am Essen", sagt sie.

Schevchenko sagt, sie sei auf Femen aufmerksam geworden durch einen Aufruf in einem sozialen Netzwerk. 2009, ein Femen-Protest an der Uni. Schevchenko, 19 Jahre alt, Journalistikstudentin, geht hin. Sie hört Oxana, Anna, Sascha reden. Das, worüber die drei sprechen, erwischt sie wie ein Sturm. Es dauert nicht lange, bis sie in die erste Reihe der Bewegung rückt.

Paris, Quartier Saint-Germain-des-Prés: Inna Schevchenko lebt im politischen Asyl in Frankreich. In der Ukraine droht ihr eine Gefängnisstrafe

Paris, Quartier Saint-Germain-des-Prés: Inna Schevchenko lebt im politischen Asyl in Frankreich. In der Ukraine droht ihr eine Gefängnisstrafe

Foto: Maria Feck/ DER SPIEGEL

Man könnte sagen, seit es nicht mehr radikal ist, dass Frauen auch mal ihre Busen in die Welt halten, hat Femen seine Durchschlagskraft verloren. Hat sich Femen selbst erledigt?

Inna Schevchenko sagt, es sei anders. "Die Tatsache, dass Nacktheit heute überall ist, kann kein Gradmesser sein dafür, dass es besser um Frauenrechte bestellt ist. Der weibliche Körper wird immer noch zum Objekt gemacht, überall, zu jeder Zeit."

Sie sagt, sie habe keinen Bock mehr, als radikal zu gelten. Femen sei noch nie radikal gewesen. "Was an der Forderung, dass Frauen frei leben und sich äußern, ohne dafür bestraft zu werden, ist bitte radikal?".

Als das Interview stattfindet, ist es gerade mal eine Woche her, dass der Filmemacher Roman Polanski mit dem César ausgezeichnet wurde, dem höchsten französischen Filmpreis. Obwohl gegen ihn Vergewaltigungsvorwürfe laufen. Als Protest gegen die Filmjury hatte die Schauspielerin Adèle Haenel den Saal verlassen, die französische Star-Autorin Virginie Despentes rechnete in einem Essay mit dem französischen Kino ab. "Alle schweigen, alle lächeln", schrieb sie. "Ist der Vergewaltiger ein mächtiger Mann, schuldet man ihm Respekt und Solidarität."

Inna Schevchenko sagt, die Sache mit Polanski sei ein Beweis, dass die Frauenrechte überall auf der Welt auf dem Spiel stehen, "durch einige gefährliche männliche Despoten". Frauenanteile in Parlamenten sinken, alle 60 Minuten würde in Russland eine Frau getötet. Die Tatsache, dass die #MeToo-Bewegung Beachtung findet, sei noch lange kein Sieg des Feminismus. "Wir haben nicht gewonnen", sagt sie.

Ich habe mein Top ausgezogen und Sprüche auf meinen Körper geschrieben, wie lächerlich ist das?"

Inna Schevchenko

Sie redet eineinhalb Stunden, sie redet und redet: Warum macht Inna Schevchenko weiter? Sie sagt: "Ich will keine Feministin sein. Ich sehne mich danach, dass der Feminismus nicht mehr gebraucht wird."

Sie sagt, dass sie an manchen Tagen aufwache und denke, okay, das war's, ich höre auf. Aber dass sie dann diese Mädchen sehe, die zu ihren Veranstaltungen kommen, die ihr E-Mails schreiben, die Mitgliederanträge ausfüllen. Dass sie selbst vielleicht schon am Ende ihres Kampfes angelangt sei, aber dass er für diese Frauen gerade erst beginne.

"Man kann erst mit etwas aufhören, wenn man sein Ziel erreicht hat. Wer vorher aufhört, gibt auf. Aufgeben ist das, was die Gesellschaft seit Jahrhunderten von Frauen erwartet."

Schevchenko im Hinterhof des "Espace des Femmes" im Quartier Saint-Germain-des-Prés: "müde, traumatisiert"

Schevchenko im Hinterhof des "Espace des Femmes" im Quartier Saint-Germain-des-Prés: "müde, traumatisiert"

Foto: Maria Feck/ DER SPIEGEL

Dann erzählt Schevchenko von einem Protest in Weißrussland 2011, in Minsk, sie klebten sich Oberlippenbärte an, wie ihn der Präsident Alexander Lukaschenko trägt, und forderten Freiheit für politische Gefangene. "Wir schrien ein bisschen rum, sonst nichts." Sie sagt, dass Leute vom Geheimdienst KGB sie festnahmen und in einen Van verluden, die Hände auf dem Rücken, den Kopf zwischen den Knien. Dass sie nach fünf Stunden in einem Wald anhielten, man ihnen die Haare abschnitt, sie mit einer grünen Flüssigkeit überschüttete, dann mit Öl. Dass einer der Männer immer wieder sagte, dass er die Frauen in Brand setzen und die Leichen ihren Müttern schicken würde.

Irgendwann, das kann man in den Berichten von damals nachlesen, wurden die Frauen nackt ausgesetzt. Der KGB hat sich nie zu dem Vorfall geäußert. Eine der Frauen beging später Suizid. Inna Schevchenko versuchte es mit drei Psychoanalysen.

Sie sagt: "Ich bin 29 und wurde dreimal fast getötet. Und warum? Ich habe mein Top ausgezogen und Sprüche auf meinen Körper geschrieben, wie lächerlich ist das?"

Sie findet, sie ist nicht mehr die Richtige, um in der ersten Reihe bei den Demos zu sehen. Sie schreibt jetzt eine Kolumne in der französischen Zeitschrift "Charlie Hebdo", sie spricht bei Kongressen, wie jenem in Amsterdam am Weltfrauentag, während in Paris fünfzig Frauen "Urgence viral, virus patriarchale" rufen, Lebensbedrohung – patriarchales Virus, auf einem großen Platz und ohne Zuschauer.

Man kann spüren, wie müde Inna Schevchenko ist. Dass sie vielleicht aufhören würde, aber dass sie vergessen hat, wie das gehen soll. Ein paar persönliche Dinge klar kriegen. Sie weiß schon, dass sie einiges geschafft hat.

Man kann diese Zerrissenheit hören, zum Beispiel, wenn Schevchenko sagt, dass in Europa noch lange nichts gut ist, dass weiter gekämpft werden muss. Nur um dann ein paar Sätze später zu sagen, dass sie, wäre sie in Frankreich aufgewachsen, vielleicht nie eine Rebellin geworden wäre. Denn Frauen in Frankreich, finde sie, gehe es im Vergleich zur Ukraine doch sehr gut. Manchmal ist sich Inna Schevchenko gar nicht mehr sicher, ob es Glück oder Pech war, dass sie damals der Femen-Einladung an ihrer Uni folgte.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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