Parteiinterne Kritik am ungarischen Premier Orbáns Monolith bekommt Risse

Internes bleibt intern, abweichende Meinungen gibt es kaum: Viktor Orbáns Partei ist ein politisches Phantom. Nun aber melden sich prominente Fidesz-Politiker mit harscher Kritik zu Wort.
Ungarischer Premier Viktor Orbán: Die schwerste Krise seit einem Jahrzehnt

Ungarischer Premier Viktor Orbán: Die schwerste Krise seit einem Jahrzehnt

Foto: ATTILA KISBENEDEK/ AFP

Ungarn ist im vergangenen Jahrzehnt zu einem fast monolithischen Staat herangewachsen. Der ungarische Premier Viktor Orbán regiert nahezu uneingeschränkt, umgeben von einem kleinen Kreis von Mitarbeitern und Machttechnikern. Die Parlamentsopposition rutschte in die Bedeutungslosigkeit ab, die Justiz wurde so umgebaut, dass sie die "illiberale" Umgestaltung Ungarns nicht mehr ernsthaft behindern kann.

Sogar Orbáns eigene Partei, der "Bund Junger Demokraten" (Fidesz) gleicht einem politischen Phantom. Nur selten werden Meinungen publik, die von Orbáns Positionen abweichen. Über das Fidesz-Innenleben dringt offiziell nichts nach außen. Parteikongresse erinnern an realsozialistische Jubelveranstaltungen. Ihr einziger Nachrichtenwert besteht in Orbáns jeweiliger Rede - "Viktor" ist die Partei. Ohne ihn würde sie wohl schnell zerfallen.

Umso erstaunlicher ist deshalb, was seit einigen Wochen aus Fidesz-Kreisen zu hören ist: Prominente Parteipolitiker und Fidesz-nahe Publizisten kritisieren den Stil der Partei öffentlich als arrogant, realitätsfern, dialogfeindlich und zu zentralistisch. Einige Beispiele:

  • János Lázár, von 2014 bis 2018 Orbáns Kanzleichef und derzeit Fidesz-Parlamentsabgeordneter, sagte vor wenigen Tagen, die Partei müsse sich "wieder mit der Wirklichkeit und den Alltagsproblemen der Menschen" beschäftigen.

  • Tibor Navracsics, ehemaliger EU-Kommissar und altgedientes Fidesz-Mitglied, prophezeite der Partei Anfang Januar, ihr Schicksal werde sich in diesem Jahr entscheiden, viel werde davon abhängen, ob sie "fähig zu Korrekturen" sei.

  • István Stumpf, Ex-Kanzleichef von Orbán in dessen Regierung von 1998 bis 2002 und bis vergangenes Jahr Verfassungsrichter, sagte im Dezember, viele konservative Intellektuelle seien ernsthaft unzufrieden mit der Partei, weil zahlreiche lokale Fidesz-Führer "keine Werte und kein Maß" kennen würden.

  • Orbáns derzeitiger Kanzleichef Gergely Gulyás sagte ebenfalls im Dezember, die Kommunikation der Regierung müsse sich ändern, vor allem müsse man die Jugend mehr ansprechen.

"Mit Blick auf die Parlamentswahl 2022 sehr nervös"

Grund der offenen Selbstkritik ist die verlorene Kommunalwahl Mitte Oktober vergangenen Jahres. Sie hat das System Orbán in die schwerste Krise seit einem Jahrzehnt geführt. Fidesz blieb zwar landesweit stärkste Partei, gewann aber fast nur in Dörfern und Kleinstädten. In der Hauptstadt Budapest, in drei der vier wichtigsten Großstädte und in zahlreichen anderen bedeutenden Städten siegte die Opposition.

"Das war ein schwerer symbolischer Verlust", sagte der Politologe Attila Tibor Nagy vom Budapester Méltányosság-Institut dem SPIEGEL. "Die Wahl hat gezeigt, dass die Menschen zum Teil Fidesz-müde sind und dass möglich ist, was viele nicht gedacht hätten, nämlich das Orbán-System abzulösen. Deshalb ist man im Fidesz jetzt mit Blick auf die Parlamentswahl 2022 sehr nervös, auch wenn ich noch nicht von einer Parteikrise sprechen würde."

Die Wahlschlappe und der erste ernsthafte Fidesz-interne Disput seit 2006 kommen für Orbán zu einer wenig günstigen Zeit.

  • Bei der Europawahl im Mai vergangenen Jahres haben Rechtspopulisten nicht, wie von ihm erhofft, einen Durchbruch erzielt. In Italien und Österreich mussten sie die Regierungen verlassen. In mehreren osteuropäischen EU-Ländern siegten in den vergangenen Monaten liberale oder linke Kandidaten.

  • Die Visegrád-Kooperation der mittelosteuropäischen Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, gedacht als starker Gegenpol zu Brüssel, ist wegen zu vieler Interessenunterschiede längst nicht so erfolgreich, wie Orbán es wünscht.

  • Überdies steht demnächst wohl auch der Fidesz-Ausschluss aus der Europäischen Volkspartei (EVP) an - Orbán wird dem wahrscheinlich mit einem Fidesz-Austritt zuvorkommen.

Ist Orbáns System ernsthaft in Gefahr?

Gerät sein System unter diesen Umständen nun ins Wanken? Eher nicht, sagt der Politologe Attila Tibor Nagy. Die Opposition werde es bei der Wahl 2022 schwerer haben als in der Kommunalwahl, da Fidesz einiges im Wahlgesetz zum eigenen Vorteil zugeschnitten habe und in den Wahlkampagnen große staatliche Ressourcen nutze.

Auch der Politologe Péter Krekó vom Budapester Institut Political Capital sieht Orbáns System derzeit nicht ernsthaft in Gefahr. "Die Dinge in Ungarn entwickeln sich politisch weiterhin in eine autoritäre und damit für Orbán günstige Richtung. Man sollte Orbán und die Partei auch nicht unterschätzen, sie sind sehr anpassungsfähig", sagt Krekó dem SPIEGEL. Allerdings seien Fidesz derzeit die Narrative ausgegangen, das könne für die Partei bedrohlich sein.

Orbán selbst reagiert auf mangelnde Loyalität in der Partei gemeinhin äußerst empfindlich. Derzeit allerdings geht er entspannt mit der öffentlichen Kritik um. Auf seiner jährlichen Großpressekonferenz am Donnerstag erbat er sich parteiintern ausdrücklich weiterhin freundschaftlich-kritische Ratschläge.

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren