Historischer Kurswechsel in Skandinavien »Die Ostsee wird zum Nato-Binnenmeer«
Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär: »Ich begrüße die Anträge Finnlands und Schwedens, der Nato beizutreten, von ganzem Herzen.«
Es war eine historische Woche für die Nato. Am Mittwoch haben Finnland und Schweden offiziell ihren Antrag auf einen Beitritt zu dem Militärbündnis eingereicht – als Mitglieder bekämen sie im Angriffsfall Beistand von den Bündnispartnern. Den zwei Ländern geht es allem voran um einen Schutz vor Russland. Dabei ist die Bedrohungslage in Finnland stärker ausgeprägt als in Schweden: Die gemeinsame Grenze mit Russland ist 1340 Kilometer lang.
Sanna Marin, Premierministerin Finnland: »Unsere wichtigste Aufgabe in der Nato ist es, unser eigenes Land, unsere eigene Region zu verteidigen, aber auch dafür zu sorgen, dass die gesamte nordische Region sicher ist. Es ist auch sehr wichtig, dass Schweden die Entscheidungen mit uns trifft, damit beide Länder viel zur Sicherheit der gesamten nordischen Ostseeregion beitragen können.«
Der Ukrainekrieg verändert die Sicherheitsarchitektur der westlichen Welt: Wie reagiert Russland? Was bedeutet die Nato-Norderweiterung für Europa? Doch Halt: Noch sind Finnland und Schweden nicht in der Nato angekommen - dafür müssen alle 30 Nato-Mitgliedsstaaten zustimmen – und ein Land stellt sich derzeit quer: die Türkei. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan stört sich an Schwedens außenpolitischer Haltung, unter anderem zu kurdischen Organisationen – und stellt eine konkrete Forderung.
Recep Tayyip Erdoğan, Präsident Türkei: »Die jüngsten Aktionen Schwedens ... wir haben sie gebeten, 30 Terroristen zurückzuschicken, sie haben nein gesagt. Sie wollen uns also keine Terroristen zurückgeben, aber Sie bitten uns um die Nato-Mitgliedschaft?«
Carlo Masala, Politikwissenschaftler: »Die Türkei fordert, und das ist die einzige Forderung, die auf dem Tisch liegt momentan, die Auslieferung von 30 – ich weiß jetzt nicht, ob es Kurden oder Türken sind, die in Schweden Asyl haben, an die Türkei, weil die Türkei denen in der Türkei den Prozess machen will. Da geht es hauptsächlich um die PKK, da geht es um die Gülen-Bewegung, also die Bewegung, der Erdoğan vorwirft, den Putschversuch 2016 maßgeblich durchgeführt zu haben. Die will die Türkei ausliefern lassen. Im Hintergrund spielen auch noch andere Sachen eine Rolle. Da geht es darum, dass Schweden ein Exportverbot für Waffen an die Türkei ausgesprochen hat seit 2019 aufgrund des türkischen Verhaltens in Syrien. Das will die Türkei sicher auch vom Tisch haben.«
Außerdem will Erdoğan Zugeständnisse der USA: die verbindliche Zusicherung, dass die Türkei F16-Kampfjets von Washington kaufen kann. Das alles bremst die Natoerweiterung aus. Deshalb geben westeuropäische Staaten den Skandinaviern Sicherheitsgarantien - für die heikle Übergangsphase.
Carlo Masala, Politikwissenschaftler: »Und da besteht natürlich die theoretische Gefahr, dass genau in diesem Prozess von heute, Antrag abgegeben, bis zum Zeitpunkt X, wo auch das letzte nationale Parlament das ratifiziert hat, die russische Föderation dann doch militärisch intervenieren könnte. Und dann stehen Schweden und Finnland ungefähr so da wie die Ukraine. Nämlich: Viele Bekundungen, wie sehr man der Ukraine helfen würden, aber keine harten Sicherheitsgarantien.«
Könnte Russland wirklich eine Intervention erwägen? Vor wenigen Wochen hatte Moskau noch alarmistisch auf die mögliche Nato-Erweiterung reagiert, nun gibt sich der Kreml betont entspannt – mit einem großen Aber.
Wladimir Putin, Präsident Russland: »Die Expansion dieser Länder stellt keine direkte Bedrohung für uns dar. Aber die Ausweitung der militärischen Infrastruktur in dieses Gebiet würde sicherlich unsere Reaktion hervorrufen. Wie die Antwort aussehen wird? Wir werden sehen, welche Bedrohungen für uns geschaffen werden.«
Carlo Masala, Politikwissenschaftler: »Was Putin meint, ist letzten Endes: Wenn Schweden oder Finnland Mitglied der Nato werden, und die Nato dann Headquarters oder strategische Nuklearwaffen in beiden Staaten stationiert, dass dann Russland sich so provoziert fühlen würde, dass es sich genötigt fühlen würde, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Wie diese Maßnahmen aussehen, das wissen wir alle nicht. Ich glaube nicht, dass es im Rahmen des Versuchs einer militärischen Intervention sein wird. Aber möglicherweise eine Verlagerung von Truppenteilen näher an die finnische Grenze zu Beispiel, Raketensysteme mit mittlerer größerer Reichweite näher an Schweden heranzubringen – all solche technischen Sachen, die letzten Endes Schweden und Finnland bedrohen sollen.«
Für den aktuellen Krieg in Ukraine würde die Nato-Norderweiterung wohl wenig ändern, für die Sicherheit in Europa dagegen könnte sie langfristig Vorteile bedeuten.
Carlo Masala, Politikwissenschaftler: »Der eine Vorteil ist: Das ist eine Erweiterung der Nato seit Langem, bei der es Mitglieder gibt, die zur Nato kommen, die über hochprofessionelle Militärs verfügen, bestens ausgerüstet, erfahren. Das ist ein zusätzliches Plus für die Nato-Fähigkeit, was dazukommt. Das zweite Vorteil für Europa ist: Die Ostsee wird zum Nato-Binnenmeer. Wenn Sie sich die Geografie der Ostsee anschauen und sagen, die Finnen und die Schweden werden Mitglied der Nato, dann ist jeder Ostsee-Anrainer bis auf diese kleine Enklave Kaliningrad ein Natomitglied. Das ist für die Planung und Durchführung mit Blick auf russische Aktivitäten in der Ostsee aus militärischer Sicht ein unheimliches Plus.«
Nicht zuletzt könnte die Verteidigung der baltischen Staaten, die sich besonders bedroht durch Russland fühlen, von schwedischem und finnischem Territorium erfolgen. Fast alle europäischen Länder wären dann sowohl EU- als auch Natomitglieder. Dafür muss aber das türkische Veto vom Tisch – eine diplomatische Lösung scheint möglich. Schweden jedenfalls plant schon mal seine Zukunft in der Nato.
Magdalena Andersson, Premierministerin Schweden: »Schweden freut sich auch auf die Zusammenarbeit mit der Türkei im Rahmen der Nato. Diese Zusammenarbeit kann zu einem neuen und wichtigen Teil unserer bilateralen Beziehungen werden.«