Vor wenigen Minuten ist die Seabird 2 in Richtung nordafrikanische Küste losgeflogen. Wir begleiten Tamino Böhm von der NGO Sea-Watch auf einem Aufklärungsflug – die Mission: Migrantenboote in Seenot finden. Sechs Stunden sind für den Flug eingeplant.
Tamino Böhm, Sea-Watch
»Bei dem Wetterbericht, den wir jetzt haben, würde ich schon davon ausgehen, dass wir Boote in Seenot finden werden. Auf jeden Fall kann ich sagen, dass das Wetter in der letzten Nacht so war, dass es definitiv möglich ist, für Menschen aus Libyen zu fliehen.«
Die Passage von Tunesien und Libyen nach Italien ist eine der tödlichsten See-Fluchtrouten der Welt. Wiederholt kentern überfüllte Boote. Zivile Seenotretter versuchen, Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren.
Seit 2017 sind die Aktivistinnen und Aktivisten von Sea-Watch nicht nur auf, sondern auch über dem Mittelmeer unterwegs. Die zweimotorigen Maschinen Seabird 1 und 2 sind auf Lampedusa stationiert.
Der 31-jährige Lübecker Tamino Böhm ist von Beginn an bei den Flügen dabei.
Dass die Flugzeuge regelmäßig abheben, ist für Sea-Watch derzeit so wichtig wie nie. Denn Italiens Regierung fährt einen harten Kurs gegen die Schiffe der NGOs.
Die illegale Migration einzudämmen, ist eines der zentralen politischen Versprechen der seit Oktober 2022 amtierenden Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
Giorgia Melonia, Italienische Ministerpräsidentin
»Ich halte eine Seeblockade weiterhin für die verlässlichste Lösung. Der Begriff klingt für viele nach Krieg, und das plappern derzeit alle nach. Ich möchte dagegen betonen, dass eine Seeblockade in Zusammenarbeit mit den libyschen Behörden einfach umzusetzen wäre.«
Meloni hat auch der zivilen Seenotrettung den Kampf angesagt: Ein Dekret verbietet Rettungsschiffen nun, wie bislang üblich für mehrere Wochen auf See zu bleiben. Die Schiffe müssen nach jeder Rettungsaktion in einen zugewiesenen Hafen zurückkehren – egal, ob sich in ihrer Nähe weitere Menschen in Seenot befinden.
Umso bedeutender sind nun die Flüge der Seabirds – je früher ein überfülltes Boot entdeckt wird, desto besser lässt sich Hilfe organisieren. Fast fünf Stunden fliegt die Seabird 2 inzwischen im Zick-Zack-Kurs die libysche Küste ab. Bislang war nur Wasser in Sicht. Doch dann kommt eine Meldung für die Retter rein.
Tamino Böhm, Sea-Watch
»Wir wurden gerade vom Netzwerk Alarmphone über einen Notruf informiert, den das Alarmphone empfangen hat. Deswegen haben wir jetzt unser Pattern spontan umgeplant.«
Böhm und sein Team wollen nun gemeinsam das Boot finden und dessen Position bestimmen. Viel Zeit bleibt nicht. Der Treibstoff reicht noch für eine gute Flugstunde.
Derzeit ertrinken so viele Menschen im Mittelmeer wie seit 2017 nicht mehr. Dieses Denkmal an der Küste Lampedusas erinnert an die Toten. Zwischen Januar und April haben mehr als 30.000 Migranten Italien erreicht.
Auf Lampedusa ist die Lage besonders dramatisch: Das Auffanglager der Insel fasst wenige Hundert Personen, doch den Behörden zufolge sind dort mehr als 2.000 Menschen untergebracht. Es gibt immer wieder Medienberichte über Schlägereien und Streitigkeiten um Essen im Lager, Frauen und Minderjährige gelten als besonders gefährdet.
Die Regierung Meloni konnte das Versprechen, die Migration einzudämmen, nicht einhalten, sie steht massiv unter Druck. Mitte April wurde ein sechsmonatiger Notstand ausgerufen, um mit Sofortmaßnahmen die besonders betroffenen Regionen im Süden des Landes zu entlasten – auch Lampedusa.
Einer derjenigen, die auf der Insel im Lager ausharren müssen, ist Stanich. Der Kameruner erzählt, dass er im März nach einem Schiffbruch von der Küstenwache gerettet wurde.
Stanich, Migrant aus Kamerun
»Ich hatte diese Luftreifen, zwei davon. So blieb ich sechs Stunden lang über Wasser. Wir sahen einen Hubschrauber kommen. Er kam mit diesem Rettungsboot, der Küstenwache. Sie kamen, nahmen uns mit, und dann hatten wir eine Chance. Sie brachten uns hierher.«
Stanich wartet darauf, dass es für ihn weitergeht, aufs Festland. Wir werden ihn später wiedertreffen.
Zurück in der Seabird 2.
Böhm hat das Boot entdeckt. Ihm bleiben wenige Minuten, dann muss das Flugzeug nach Lampedusa zurückkehren. Der Aktivist organisiert aus der Luft Hilfe für die Bootsinsassen. Er funkt ein Handelsschiff an, das sich in der Nähe befindet.
Tamino Böhm, Sea-Watch
»May Day Relay. Seabird. Glasfaserboot mit 30 Menschen in Seenot gesichtet. Ich wiederhole: Glasfaserboot mit 30 Menschen in Seenot gesichtet. Alle Schiffe in der Umgebung werden gebeten, sich zur Position zu begeben. Sofortige Hilfe ist erforderlich.«
Ein Hin und Her per Funk beginnt, Böhm schildert die Lage.
Tamino Böhm, Sea-Watch
»Die hohen Wellen gefährden die Menschen, die keine Rettungsausrüstung haben.«
Doch das Handelsschiff weigert sich, zum Migrantenboot zu fahren.
Handelsschiff
»Bitte beachten Sie, dass wir unsere Route beibehalten werden.«
Böhm bleibt hartnäckig – mit Erfolg.
Tamino Böhm, Sea-Watch
»Ich verstehe, dass Sie einen gemeldeten Notruf ignorieren, obwohl Sie das nächstgelegene Schiff in der Nähe sind? Ist das richtig?«
Handelsschiff
»Verstanden. Wir wenden uns jetzt der Position zu. «
Das Handelsschiff gibt durch, das Migrantenboot innerhalb von 30 Minuten erreichen zu können. Mission geglückt, so scheint es.
Einige Stunden später. Nachbesprechung in der Sea-Watch-Zentrale auf Lampedusa, Mitarbeiter aus Deutschland sind zugeschaltet. Zum Feiern ist Tamino Böhm und seiner Crew nicht mehr zumute, denn sie haben erfahren, dass die Rettungsmission abgebrochen wurde. Offenbar ist das »RCC Malta«, das maltesische Rettungskoordinierungszentrum, eingeschritten – und das Handelsschiff ist nie bei dem Boot mit den Geflüchteten angekommen.
Tamino Böhm, Sea-Watch
»Ich bin müde und, ja, ich glaube, genervt ist ein gutes Wort. Die letzte Stunde des Fluges war eine Art Achterbahn der Gefühle. Ich bin ein bisschen beunruhigt, weil ich im Moment nicht wirklich eine Strategie von RCC (Malta) erkennen kann, wenn sie nicht einmal Handelsschiffe überprüfen lassen.«
Später kommt heraus, dass wohl ein anderes Handelsschiff dem Boot, das die Seabird 2 gesichtet hatte, zu Hilfe gekommen ist – ganz sicher ist das aber nicht.
Schwere Zeiten für private Seenotretter – und Lebensgefahr für alle, die die Überfahrt nach Europa wagen. Trotzdem legen weiter fast täglich Boote mit Migrantinnen und Migranten in Libyen ab. Tamino Böhm wird weitermachen. Er sieht sich in der Pflicht, zu helfen – und fordert eine politische Kehrtwende.
Tamino Böhm, Sea-Watch
»Mir ist wichtig, dass wir begreifen in Europa, dass wir alle diese Politik, diese Abschottungspolitik hier mittragen und wir da eine Verantwortung tragen für das Sterben auf dem Mittelmeer. Die Menschen müssten nicht sterben. Es gibt Fähren, die fahren teilweise täglich zwischen Tunesien und Italien, und wir entscheiden uns aber aktiv dafür, dass wir Leute zwingen, dass sie da auf diesen Nussschalen unterwegs sind und ihr Leben aufs Spiel setzen.«
Stanich hat die Überfahrt in einer Nussschale überlebt. Jetzt, nach Wochen im Lager, darf er die Insel verlassen. Dass er dauerhaft in Italien bleiben darf, ist nicht sicher – für diesen kleinen Hoffnungsschimmer auf ein neues Leben in Europa, hat er – wie Tausende andere – alles riskiert.