Syrerin auf Lesbos "Ich dachte, Europa ist ein anderer Ort"

Ein Mädchen wartet darauf, ihre Kanister mit sauberem Wasser zu füllen: Beim Brand in Moria wurden Tausende Menschen obdachlos
Foto:ANGELOS TZORTZINIS / AFP
Sie erzähle ihre Geschichte, sagt Nisrin, aber ein Foto von sich und ihrer Familie wolle sie nicht veröffentlicht sehen. Es gebe doch schon so viele Bilder von dem Feuer, und von den Menschen auf den Straßen, den Schwangeren ohne Obdach.
Nisrin, 60 Jahre, kommt aus Syrien. Ihre Familie, das sind ihr Ehemann Ahmed und ihre drei Enkelinnen, Faten, Batul und Fatme, sechs und acht und neun Jahre. Seit einem knappen Jahr sind die fünf in Moria. Zuvor hatten Bomben im syrischen Krieg Nisrins und Ahmeds Sohn und seine Frau getötet und die drei Kinder zu Vollwaisen gemacht.
Als das Feuer in der vergangenen Woche im Camp ausbrach , schliefen Nisrin, Ahmed, Faten, Batul, Fatme alle zusammen in ihrem Zelt.

Diese Familie ist nach dem Brand in Moria auf dem Weg in das von der griechischen Regierung errichtete Notlager auf Lesbos
Foto: ALKIS KONSTANTINIDIS / REUTERSWenn man Nisrin zuhört, dann merkt man, dass sie beim Sprechen nach einer Erklärung sucht für das, was ihrer Familie passiert. Etwas, das ihr hilft zu begreifen, damit sie die nächsten Schritte tun kann, gerade für die drei Mädchen.
"Als das Feuer kam, haben wir alles in unserem Zelt zurückgelassen, unsere Sachen, unsere Geldbeutel, die Erinnerungen an unser altes Leben. Ich glaube, alles ist nun Asche. Wir rannten und rannten, da rannten Tausende in dieselbe Richtung, aber mein Mann hat Herzprobleme, er kam nicht hinterher, immer wieder mussten wir stoppen. Unsere Mädchen waren voller Angst, sie weinten, sie sagten: "Wir müssen auf Großvater warten."
Ich bin 60 Jahre alt, mein Mann Ahmad ist 65. In Syrien in der Stadt Deir ez-Zor hatten wir einmal eine große Landwirtschaft, Ahmad war Bauer. Dann kam der Krieg. Es fielen Bomben. Sie machten unsere Enkel zu Waisen, uns nahmen sie unseren Sohn: Er und seine Frau starben bei einem Bombardement.
Wenn du im Krieg bist, dann verstehst du, dass du mit dem Horror irgendwie fertig werden musst, der dich umgibt. Krieg, das ist so was wie eine Erklärung, ein Grund für die schrecklichen Dinge. Ich glaube, nur so kann man damit fertig werden.
Seit zehn Monaten sind wir nun aber in Camp Moria, in Europa. Hier ist kein Krieg. Für den Horror hier gibt es keine Begründung. Ich dachte, Europa ist ein anderer Ort. Ein Ort, an dem es Frieden gibt und Sicherheit, ein Ort, an dem du dein Leben wieder selbst in der Hand hast. Mein Mann nannte das Lager manchmal 'Folter', und ich sagte dann immer, er soll still sein, und dass es schlimmer sein könnte. Dann kam das Feuer, und ich glaube, er hatte recht.
Wir haben auch die Nachricht gehört, dass Deutschland 1500 Menschen aus Griechenland ausfliegen will. Natürlich würden wir gern zu diesen Flüchtlingen gehören. Wir haben immer gehofft, dass Europa an einem bestimmten Punkt eine Erklärung abgibt, eine Entscheidung fällt, die Moria beendet und unserem Leben eine neue Wendung gibt.
In den Nächten nach dem Feuer haben wir auf der Straße übernachtet, in der Nähe eines Supermarktes, da waren noch viele andere Familien und Kinder.
Es gibt ein neues Camp, eine Art Notlager auf einem Schießübungsfeld der griechischen Armee. Viele Menschen hier sagen, sie wollen dort nicht hin, es sei wie ein Gefängnis. Aber wir gehen erst mal dahin, was sollen wir sonst tun? Meine jüngste Enkelin ist erst sechs Jahre alt, zart und klein. Wenn ich sie auf der Straße schlafen sehe, weine ich. Wir gehen zurück in ein Camp, obwohl wir vor wenigen Tagen in so einem Camp das Inferno erlebten."