Flüchtlingskinder im Sindschar-Gebirge Majida wird 9, 11, 16 – und lebt noch immer im Camp

Majida im Alter von 9, 11 und 16 Jahren
Foto: Kilian Foerster
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Beim ersten Besuch war Haytham gerade 14 Jahre alt und doch bereits ein halbes Jahrzehnt auf der Flucht. Der Fotograf Kilian Foerster sprach mit ihm über seine Erinnerungen. Und Haytham erzählte. Wie sie mit dem Auto zu neunt in die Berge geflohen waren. Wie Kämpfer des »Islamische Staats« (IS) sie einholten. Wie auf ihn geschossen wurde.

Haytham 2019 im Flüchtlingslager Sardaschti
Foto: Kilian FoersterDie Jesiden sind seit Langem eine verfolgte Minderheit. Doch der Terror der IS-Miliz in den vergangenen Jahren übertraf fast alles. Systematisch wurden ganze Landstriche entvölkert. Die Männer ermordet und namenlos verscharrt. Die Frauen und Kinder als Sklaven verkauft und missbraucht.
Das Schicksal der Gemeinschaft berührte die Welt. Acht Jahre später ist nur gut die Hälfte der Vertriebenen wieder in ihrer Heimat, eine Rückkehr in ihre Dörfer für viele noch immer unvorstellbar. Die Gefahr von Angriffen durch Islamisten ist in der Provinz oft noch nicht gebannt. Die Landschaft hat Narben bekommen, viele Ortschaften sind zerstört, die Ruinen vermint. Also harren viele Vertriebene weiter in Camps im Sindschar-Gebirge aus. Auch sie haben oft Narben, körperlich wie seelisch.
Etwa 150.000 Jesiden sollen noch in den Bergen der autonomen Kurdenregion leben. Mehrere Dutzend von ihnen hat Foerster mittlerweile porträtiert, einige von ihnen mehrmals. Manche Kinder, die er seit 2014 getroffen hat, sind in dieser Zeit zu jungen Erwachsenen geworden.
Kilian Foerster, Jahrgang 1970, Fotograf aus Hamburg, bereist seit 2014 regelmäßig den Norden des Iraks, um die Entwicklungen vor Ort unabhängig von tagesaktuellen Ereignissen zu dokumentieren. Seine »Kindergeschichten aus dem Irak und aus Syrien« sind auch auf seiner Homepage zu finden.
Bei jedem Besuch versuchte er, ein neues Bild aufzunehmen. Die Fotos halfen ihm auch, die Kinder später wiederzufinden. Er zeigte sie Dorfältesten und Schulleitern, die für ihn weiterfragten. Viele, sagt Foerster, seien froh, dass jemand dabei helfe, neue Erinnerungen an die eigene Geschichte zu schaffen.
Manche Familien sind in den vergangenen Jahren aus den Camps verschwunden. Zurück in die Dörfer, weiter ins Ausland, vielleicht nach Europa. Zu vielen verlor sich die Spur bereits am Ortsrand, der IS hat nicht nur Menschenleben zerstört, sondern auch gewachsene Verbindungen, Kontakte untereinander.

Viele jesidische Familien leben seit Jahren in der Hochebene des Sindschar-Gebirges
Foto: Kilian FoersterDafür sind neue Menschen dazugekommen. Die Porträts, die Foerster im Lauf der Zeit aufnahm, sind bewusst analog fotografiert. Ob sie gelungen waren, konnte er immer erst nach seiner Rückkehr sagen. Jedes Bild musste so bewusst gewählt werden.
Die Jesiden sind bis heute ein Spielball fremder Interessen. Ihr Schutz hängt an der Hilfe verschiedener kurdischer Gruppen. Und an Staaten, die noch immer in der Region kämpfen.

Dilnaz, 12 Jahre alt: »Ich wünsche mir, dass ich immer glücklich bin und keine schlechten Erfahrungen mehr mache«
Foto: Kilian FoersterViele westliche Krisentouristen und -fotografen motivierten ihre Gesprächspartner mit haltlosen Versprechen, kritisiert Foerster. Angebliche Hilfen bei der Reise nach Europa, eine Einladung oder ein gutes Wort gegen eine schnell erzählte Elendsgeschichte.
Mit dieser Art von Arbeit wollte Foerster möglichst wenig zu tun haben. Er wisse, dass er als freier Fotograf nicht viel geben könne. Das Einzige, was er den Kindern mitgab, war deshalb ein vages Versprechen: Wenn ich wiederkomme, bringe ich dein Bild mit. Für viele war das genug.
Dreimal hat der Fotograf seitdem sein Versprechen erfüllt. Keines der Kinder traf Foerster dabei so oft wie Majida. Als er ihr 2014 zum ersten Mal begegnete, war sie neun Jahre alt und mit ihrer Familie gerade erst in dem Flüchtlingscamp angekommen. Zwei Jahre später trafen sie sich wieder. Sie war nun elf, sah aber noch immer jünger aus. Erst ganz langsam erzählte Majida beim dritten Treffen 2019 schließlich von dem, was ihre Gedanken in der Vergangenheit hielt. Von ihrem alten Dorf, den Granatapfelbäumen und von ihrem Traum, einmal Ärztin zu werden.
Als Foerster sie und ihre Familie Ende Oktober 2021 nun zum vierten Mal wieder besuchte, war sie bereits 16 Jahre alt. Ihre Träume hat Majida noch immer. Doch inzwischen sind bei ihr, wie auch bei Haytham und den meisten anderen Kindern neue Herausforderungen, Sorgen und Wünsche dazugekommen. Niemand weiß, wie lange sie noch in den Bergen bleiben, wie ihre Zukunft einmal aussehen wird.
Sehen Sie hier, wie die geflohenen Kinder von Sindschar auf ihren Alltag blicken, woran sie sich bis heute erinnern und wie sich ihr Leben entwickelt hat:

Das neue Leben der Kinder von Sindschar
Kilian Foerster
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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