Geflüchtete in Bosnien-Herzegowina Verlassen in der Kälte
Lipa, ein Camp für Geflüchtete im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina.. Ein Teil des Lagers brannte vor Weihnachten ab, doch noch immer leben Hunderte Menschen hier. Direkt gegenüber hat die Armee inzwischen neue Zelte aufgestellt. Das Lager liegt 750 Meter hoch zwischen den Bergen, entsprechend rau zeigt sich hier der Winter. Mohammed aus Pakistan hat einen Platz in dem neuen Camp bekommen.
Mohammed Afsal, Geflüchteter aus Pakistan:
»Es ist besser als nichts. Ich meine, vorher hatten wir nicht einmal eine Matratze, wir schliefen auf dem nackten Boden. Wir hatten kein Bett, kein sauberes Wasser, keine Toilette und keine Möglichkeit zu duschen. Aber jetzt haben wir zumindest etwas, um durchhalten zu können.«
Pro Zelt gibt es einen Heizlüfter, der gegen Kälte und fehlende Isolation allerdings nur wenig ausrichten kann.
Maximilian Popp, DER SPIEGEL:
»Das Militär ist gekommen, hat ein paar Zelte aufgestellt. Das sieht aber so, als wäre es eher eine Maßnahme, um die Öffentlichkeit in Europa zu beruhigen als den Flüchtlingen wirklich zu helfen. Das sind viel zu wenig Zelte. Da kommen vielleicht 200, 300 Menschen unter. Alle anderen sind weiter auf der Straße, wissen nicht wohin, laufen durch den Wald, versuchen, irgendwo zu schlafen, irgendwo zu überlegen. Und keiner weiß so recht, wie es weitergehen könnte.«
Geflüchteter:
»Was für eine wunderschöne Arbeit. Minus vier, minus fünf Grad. Gefrierendes Wasser.«
Zu dieser Quelle kommen die Migranten, für die kein Platz in den neuen Zelten ist. Das Wasser dient zum Waschen und zum Kochen. Kein Trinkwasser, warnt dieses Schild.
Die Männer laufen zum abgebrannten Camp zurück. Bilder, an deren Verbreitung die bosnischen Behörden kein Interesse haben. Seit einigen Tagen verwehrt die Polizei Journalistinnen und Journalisten den Zugang nach Lipa. Unseren Reportern wurden die Pässe abgenommen, bevor sie zur Polizeistation eskortiert wurden.
Diese Gruppe hat sich aus Planen einen Wetterschutz gebaut. Das offene Feuer beißt in den Augen. Gerade wird mit gespendeten Lebensmitteln das Abendessen gekocht. Die Nudeln sind schon fertig, der Topf wird noch für das Gemüse gebraucht.
Seit Frühjahr 2020 hatte die IOM, die Uno-Organisation für Migration, das Lager in Lipa betrieben. Finanziert von der EU. Vor Weihnachten stieg die IOM aus, weil bosnische Behörden den Anschluss ans Wasser- und Stromnetz blockierten. Kurz nach dem Rückzug gingen Teile des Lagers in Flammen auf.
Auch Muhammad aus Afghanistan lebt immer noch hier. Eigentlich sollten er und die anderen in ein Camp bei Sarajevo gebracht werden – nach Protesten der dortigen Bevölkerung mussten sie jedoch in den Bergen bleiben.
Muhammad Ajmal, Geflüchteter aus Afghanistan:
»Die Polizei hat gesagt, kommt alle und setzt euch in den Bus. Es geht nach Sarajevo. Ich habe die Nacht im Bus geschlafen. Am nächsten Morgen, am Nachmittag hat die Polizei gesagt, ihr könnt nicht nach Sarajevo fahren. Ihr müsst wieder ins Camp zurück. Dann bin ich wieder ins Camp gekommen und habe gesehen, dass hier drin (in diesem Container) keine Leute sind.«
Reporter: »Jetzt stehen da drüben neue Zelte. Warum bist du nicht in den neuen Zelten?«
Muhammad Ajmal: »Dort gibt es keinen Platz.«
In diesem ehemaligen Verwaltungscontainer hat er sich mit vier Freunden eingerichtet. Improvisation ist alles – Licht macht Muhammad mithilfe von Pflanzenöl. Er klagt über Schmerzen in Rücken und Beinen. Im Moment fehlt hier jede medizinische Versorgung, die nächste Apotheke ist einen halben Tagesmarsch entfernt. Eine Busverbindung oder Ähnliches gibt es nicht.
Zlatan Kovačevič von der bosnischen Hilfsorganisation »SOS Bihać« hat noch vor dem Wintereinbruch auf rasches Handeln gedrängt. Doch bisher darf er hier in Lipa nicht helfen. Es mangelt am Willen der Behörden, die einander vor allem gegenseitig blockieren.
Zlatan Kovačevič, SOS Bihac:
»Unser Sponsoren haben uns schon vor ein paar Tagen Container mit Duschen und Toiletten gesendet - für medizinische Hilfe. Die stehen bei uns im Lager, aber wir warten auf Leute, die hier Macht haben, dass sie eine Koordination machen. Und dass sie uns erlauben, dass wir diese Container einfach hier installieren und anfangen, medizinische Hilfe zu besorgen, oder diesen Leuten eine warme Dusche erlauben.«
Das internationale Freiwilligenteam von »SOS Bihać« nutzt die Zeit, um Spenden zu sortieren. Die Hilfsbereitschaft ist groß. Einheimische bringen Sachen vorbei, auch aus Deutschland kommen Transporte. Miriam aus Österreich ist eine der Helferinnen. Sie weiß, was besonders gebraucht wird.
Miriam, SOS Bihać:
»Schuhe. Uns fehlen Schuhe. Also, wir haben wahnsinnig wenig Schuhe. Vor allem wenig gute Schuhe. Die gespendeten Schuhe kann man oft nicht brauchen, oft sind es nur so Schlapfen, so Patscherlen. Oder auch, einmal haben wir ganz so schwere Feuerwehrstiefel gespendet gekriegt. Die bringen den Menschen aber nichts, weil die wollen hunderte Kilometer durch den Wald rennen. Das machst du nicht mit Sicherheitsschuhen. Und es gibt da oben in Lipa immer noch hunderte Menschen, die einfach Flipflops anhaben bei den Temperaturen. Das ist einfach, na ist schlimm.«
In diesem ehemaligen Altersheim in der Stadt Bihać haben dutzende Migranten aus Lipa Zuflucht gesucht. Die Ruine ist feucht und hat keine Fenster. Licht kommt vom Handy. Nissar aus Pakistan zeigt uns den Raum, den er sich mit anderen teilt. Trotz allem sei es hier besser als im Schnee von Lipa.
Nissar, Geflüchteter aus Pakistan:
»Ich habe aus dem Lager Lipa zwei Decken mitgebracht. Denn es ist Winter und ich habe keinen Schlafsack. Sie sind schwer, aber ich habe sie getragen. Hier drin ist es besser als im Lipa-Camp, weil es nicht so kalt ist.«
Diese Pakistaner und Afghanen träumen von einem Leben in der EU. Oft haben sie schon versucht, über die nahe Grenze nach Kroatien zu kommen, wurden aber immer wieder rabiat (von der Polizei) nach Bosnien abgeschoben, ohne dass sie überhaupt einen Asylantrag stellen konnten. Das sind sogenannte Pushbacks, und diese Form der Abschiebung ist illegal. Die Migranten nennen dieses Wagnis »Game«, Spiel.
Nissar, Geflüchteter aus Pakistan: »Fünf ›Games‹ hat diese Person versucht. Sieben ›Games‹. Fünf ›Games‹.
Migrant: »Ich komme auf sieben ›Games‹.«
Nissar: »Und du?«
Migrant: »Zehn ›Games‹.«
Nissar selbst hat es vier Mal probiert. Jetzt im Winter ist ihm der Weg durch die verschneiten Berge zu gefährlich. Auch wenn er weiter von einem eigenen Restaurant in Deutschland oder Frankreich träumt – seine Freunde aus der Heimat wollen, dass er zurückkehrt.
Nissar, Geflüchteter aus Pakistan:
»Wenn ich mit meinen Freunden spreche, sagen sie mir, du bist jetzt so schwach. Du hast deine Energie verloren. Warum bleibst du dort? Du darfst es nicht weiter versuchen, du musst zurückkommen. Es bringt nichts, dein Leben zu verschenken.«
Reporter: »Aber du wirst es wieder versuchen?«
Nissar: »Ja, wir versuchen es wieder, weil wir in den Ländern unterwegs schon so viel Zeit verschwendet haben.«
Ein winterfestes Camp mit Wohncontainern steht seit Monaten hier in Bihać leer. Weil Behörden und ein Teil der Bürger nicht weiter tausende Migranten in der Kleinstadt haben wollten, waren die Bewohner im Frühjahr von hier in das eigens errichtete Zeltlager Lipa gebracht worden.
Seit drei Monaten halten Einwohner von Bihać eine Mahnwache vor dem geschlossenen Camp - sie wollen eine Wiedereröffnung verhindern. Fadil Dizdarević koordiniert die Proteste. Der pensionierte Polizist schreckt vor Gewalt nicht zurück.
Fadil Dizdarević, pensionierter Polizist:
»Ich sage es Ihnen mal so: Weil wir hier 24 Stunden und per Handy vernetzt sind, könnten wir innerhalb von zehn Minuten mehr als 2000 Leute mobilisieren und wenn nötig, mit Gewalt die Rückkehr der Migranten verhindern.«
Am Sonntag verteilen Zlatan und sein Team von »SOS Bihać« vor einer alten Fabrik in Bihać Lebensmittel und Kleidung. Auch hier wohnen viele Migranten, um die sich sonst niemand kümmert.
Auf den ersten Blick etwas überraschend: Sogar der Ex-Polizist, der gegen Migranten in seiner Stadt ist, hilft mit. Auch er will offenbar nicht, dass sie erfrieren.
Fadil Dizdarević, pensionierter Polizist:
»Moment, eine Gruppe ist okay, geht. Und ihr geht hierhin.«
Während draußen Mehl ausgegeben wird, damit die Menschen sich selbst Brot backen können, ist die Halle kurzerhand zur Arztpraxis umfunktioniert worden. Der Mediziner Gerhard Trabert untersucht Migranten, die Beschwerden haben.
Ein unverhoffter Termin für manche, die schon länger eine Behandlung brauchen. Viele Patienten leiden an Krätze, weil sie sich nicht richtig waschen und ihre Kleidung wechseln können.
Der Arzt aus Mainz ist angereist mit zwei Transportern, in denen er Sprechstunden abhalten will. Damit er Migranten behandeln darf, fehlen noch Stempel der bosnischen Behörden. Doch Trabert will die Zeit nicht mit Warten verbringen.
Gerhard Trabert, Arzt aus Mainz:
»Wir haben jetzt einfach schon mal versucht zu beginnen, ohne alle Genehmigungen zu haben. Die Genehmigung ist im Prinzip die, die Menschen brauchen Hilfe und ich kann immer sagen, als Arzt bin ich verpflichtet, Menschen zu helfen, die in Not sind.«
Zurück nach Lipa. Es bleibt ein menschenunwürdiges Lager an einem unwirtlichen Ort, auch wenn im Schnee inzwischen 24 neue Zelte stehen. Die Eingänge bleiben Tag und Nacht offen.
So hat die Europäische Union mit Lipa ein neues Symbol für das eigene Versagen in der Asylpolitik.