Geflüchtete an der EU-Außengrenze in Bosnien »Ich glaube, ich habe 20 Tage nicht geduscht«
Hinter diesen Bergen beginnt Kroatien und damit die Europäische Union. Auf bosnischer Seite bei Bihać steht diese provisorische Unterkunft, gebaut von einer Gruppe Pakistaner. Heute backen sie ihr traditionelles Fladenbrot. Das Mehl und alles andere hier wurde ihnen von Privatpersonen und Hilfsorganisationen gespendet.
Um die Zelte vor Schnee und Regen zu schützen, haben Ashraf und seine Freunde Planen gespannt.
Ashraf, Migrant aus Pakistan:
»Wir haben zwei Dächer gegen die Nässe gebaut. Von oben dringt kein Wasser ein, aber manchmal ein wenig von unten durch die Paletten. Trocken ist es nicht.«
Trotzdem leben die Männer lieber hier als im offiziellen Migrantencamp in den Bergen, weil es dort noch kälter sei. Ashraf hat es, so sagt er, bereits zwölfmal in die EU versucht. Zuletzt sei er aus Italien nach Bosnien deportiert worden, was illegal sei. Wenn der Schnee weg ist, wollen Ashraf und seine Freunde es wieder probieren.
Ashraf, Migrant aus Pakistan:
»Wir gehen hier über die Berge. «
Reporter:
»Du kennst den Weg?«
Ashraf:
»In diesen Bergen wissen wir Bescheid. Ich habe zwölfmal das Game versucht. Sehr oft. Diese Berge kennen wir.«
Game – Spiel – nennen die Migranten den Versuch, die stark kontrollierte EU-Außengrenze zu überqueren.
Zuvor wohnten die Pakistaner hier: In 750 Meter Höhe, im offiziellen Camp Lipa.
Kurz vor Weihnachten brannten Teile des Lagers ab, nachdem die Uno-Organisation IOM als Betreiberin ausgestiegen war. Sie hielt das Camp im Winter für völlig ungeeignet.
Als wir Muhammad Ajmal am 11. Januar in Lipa besuchen, lebt er wie Hunderte andere immer noch in den Überresten des Lagers. Der Afghane, der sich in Kabul selbst Deutsch beigebracht hat, schläft in diesem ehemaligen Verwaltungscontainer. Tage später kann er in ein beheiztes Zelt umziehen, aufgestellt von der bosnischen Armee. Warmes Wasser gibt es immer noch nicht.
Muhammad Ajmal, Migrant aus Afghanistan:
»Ich glaube, ich habe 20 Tage nicht geduscht. Es gibt keine Duschen hier. Es gibt kein Wasser. Jeden Tag bekommen wir zwei Mal Essen. Etwas Fleisch, Wasser wird gebracht. Damit kann niemand duschen, weil es zum Trinken ist.«
Wegen Rückenschmerzen bräuchte er einen Arzt (evtl. kurz: warum er einen Arzt braucht), aber auch der fehlt in Lipa. Bis zur Apotheke müsste er 25 Kilometer laufen.
Andere brechen bei diesen Temperaturen auf, um über die kroatische Grenze zu kommen. Ende Januar treffen wir diese afghanische Familie. Sie berichten, sie seien schon fünf Mal von der kroatischen Polizei nach Bosnien zurückgeschickt worden.
O-Ton afghanischer Jugendlicher:
»Sie sagten zu uns, ihr könnt anderswo um Asyl bitten, aber nicht in Kroatien.«
Der elfjährige Mohsen schildert, dass ein kroatischer Polizist seinen kleinen Bruder getreten habe. Die Beamten hätten sie angeherrscht.
Mohsen. Migrant aus Afghanistan:
»Der nächste fragte: ›Warum macht ihr das Game?‹ Ein anderer sagte zu uns: ›Lasst das.‹«
Trotzdem zieht die Familie wieder los, hofft, unbemerkt über die Grenze zu kommen.
Zlatan Kovačevič von der Hilfsorganisation SOS Bihać braucht heute seinen Allrad-Lada. Er ist auf dem Weg in den sogenannten Dschungel. Dort und in leerstehenden Gebäuden rund um Bihać leben Migranten, die aus dem Camp Lipa geflohen sind.
Der Bosnier bewundert die Improvisationsfähigkeit der Menschen, aber er kennt auch die Risiken, die sie mit jedem »Game« im Winter eingehen.
Zlatan Kovačevič, Helfer von »SOS Bihać«:
»Für mich sind sie die reichsten Leute von allen, denn sie können aus allem etwas machen, um zu überleben. Es ist nicht leicht, das ›Game‹ im Winter mit anzusehen. Bei minus 20 Grad. Egal, ob es Kinder, Frauen oder Männer sind. Es ist sehr gefährlich. Ein kleiner Fehler, und alles ist vorbei. Deswegen nennen sie es ›Game‹, Spiel zwischen Leben und Tod.«
Heute bringt er einer Gruppe Brennholz. Als Jugendlicher verlor Zlatan im Bosnienkrieg ein Bein, wurde dann in Deutschland behandelt – seit seiner Rückkehr unterstützt er Menschen in Not. Ausladen, ein kurzes Gespräch – was wird gebraucht –, dann muss Zlatan schon wieder los. Hunderte weitere warten auf seine Unterstützung.
Diese Migranten haben gerade Lebensmittel gespendet bekommen. Ihr Ziel: Das IOM-Lager Miral nahe der kroatischen Grenze. Sie sind sogenannte »Camp Jumpers«. Abends steigen sie über den Zaun, um einen Schlafplatz im Warmen zu finden. Offiziell rein dürfen sie nicht, denn Miral ist wie alle Männerlager in Bosnien überfüllt. Das »Camp Jumpen« wird geduldet – weil sie aber nicht offiziell registriert sind, müssen die Männer ihr Essen selbst mitbringen.
Zu denen, die Lebensmittel bereitstellen, gehört eine Gruppe von »SOS Balkanroute«. Die jungen Freiwilligen aus Österreich sind schon seit mehr als zwei Jahren im Nordwesten Bosniens aktiv. Einer von ihnen ist Milan, der sonst in Wien als Koch arbeitet.
O-Ton Milan, Helfer von »Ost & Found«
»Wir versorgen ungefähr 800 bis 1000 Leute in der Woche, in Wochenpaketen. Für eine Person, das sind 350 Milliliter Öl, 400 Gramm Reis, 350 Gramm Linsen und zwei Knollen Knoblauch, sechs Zwiebeln. Das ist natürlich nicht die komplette Ration an Essen, die eine Person braucht. Aber wir versuchen, die Basisgrundlage zu schaffen.«
Laura und Pina bereiten ihre Tour vor. Die beiden Frauen gehören zum Leipziger Verein »Ost & Found«. Mit anderen aus der Klub- und Festivalszene nutzen sie die Corona-Zwangspause, um in Bosnien zu helfen. Sie bringen Brennholz zu den Notbehausungen.
Laura, Helferin von »Ost & Found«
»Wir fahren in unterschiedliche Squats und verteilen Holz, damit die Menschen vor Kälte geschützt werden. Und in Öfen, die wir gebaut haben, das Holz verwenden können, um die Öfen einzuheizen.«
Das Verteilen beginnt erst im Dunkeln. Die Migranten schicken eine Nachricht, wenn sie Nachschub brauchen. Dass das Ganze geradezu heimlich und schnell abläuft, hat seine Gründe. Die bosnischen Behörden sehen es nicht gern, wenn den Menschen von privater Seite geholfen wird.
Pina, Helferin von »Ost & Found«
»Ist einfach nicht cool, sich dabei unbedingt sehen zu lassen, weil wir halt den ganzen Winter durchhalten müssen und versuchen, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu bekommen.«
80 Säcke fahren die Frauen pro Tag aus, bei starkem Frost deutlich mehr.
Zurück zu Ashraf im »Dschungel«. Sonst kochen die Männer Gemüse, heute gibt es sogar Fleisch.
O-Ton Ashraf, Migrant aus Pakistan:
»Manchmal schenken uns einige Leute etwas. Wie das Fleisch heute. Eine alte Frau hat es uns vorbeigebracht.«
Nachbarschaftshilfe für das Überleben in der Kälte. Private Unterstützer und die Migranten selbst leisten, was der bosnische Staat und die EU verweigern.