Flüchtlingskrise Was dieses Mal anders ist als 2015

Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze bei Pazarkule: seit Jahren in der Türkei
Foto: Bulent Kilic/ AFPWiederholt sich jetzt der Flüchtlingssommer 2015?
Nein. In den vergangenen Jahren hat sich einiges verändert. Griechenland sichert nun die EU-Außengrenze und leitet nicht wie 2015 Ankommende einfach weiter. Die griechische Regierung greift dabei allerdings mitunter zu Mitteln, die griechisches, europäisches und internationales Recht verletzen, und erfährt dennoch von Brüssel und den anderen EU-Mitgliedstaaten Unterstützung. Denn auch dort hat sich die Stimmung verändert: Das Szenario von 2015 soll sich auf keinen Fall wiederholen.
2015 strömten Menschen aus vielen Ländern in die Türkei, um von dort weiter in die EU zu reisen - beispielsweise Syrer, die bis dahin im Libanon und in Jordanien gelebt hatten. Doch inzwischen hat die Türkei ihre Grenze mit Syrien geschlossen. An der griechisch-türkischen Grenze stehen aktuell vor allem diejenigen, die bereits seit mehreren Jahren in der Türkei leben.
Wie ist die Lage der Flüchtlinge in der Türkei?
In der Türkei leben nach Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks rund vier Millionen Flüchtlinge - so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Allerdings haben diese keinen international anerkannten Flüchtlingsstatus wie beispielsweise Flüchtlinge in Deutschland, der ihnen eine gewisse rechtliche Sicherheit verschafft und den Zugang zu Leistungen eröffnet. Syrische Flüchtlinge in der Türkei haben meist einen temporären Schutzstatus, der ihnen und ihren Kindern Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Schulen in der Türkei ermöglicht. Viele Afghanen in der Türkei sind überhaupt nicht registriert.
Lange boomte die türkische Wirtschaft; viele Flüchtlinge und Migranten konnten sich ihren Lebensunterhalt dort verdienen. Doch seit die Türkei in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt, wird dies schwieriger. Derzeit leben rund zwei Drittel der syrischen Flüchtlinge in der Türkei in Armut - ihren Landsleuten im Libanon und in Jordanien allerdings geht es noch schlechter. Doch auch in der Türkei nimmt der Druck zu. Die Türkei schiebt inzwischen Syrer und Afghanen gegen deren Willen ins Kriegsgebiet ab. Seit etwa Ende 2017 nimmt die Türkei kaum noch neue Flüchtlinge auf.
Wie viele Flüchtlinge kommen gerade nach Europa?
Am Samstag hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Grenze nach Europa als geöffnet bezeichnet. Seitdem jedoch hat Griechenland seine Landgrenze mit der Türkei geschlossen und hält Menschen mit Gewalt vom Grenzübertritt ab. Über Land haben es seitdem nur wenige aus der Türkei nach Griechenland geschafft. Über See dagegen, von der türkischen Küste zu den griechischen Inseln Lesbos, Samos und Chios, sollen es bis Montagmorgen rund 1000 Menschen geschafft haben. Allerdings gibt es dazu noch keine gesicherten Zahlen. Die Lage ist unübersichtlich, auch weil Beobachter und Hilfsorganisationen vor Ort attackiert werden. Im Sommer 2015 kamen teils mehr als 12.000 Menschen pro Tag auf den griechischen Inseln an. Von dort weiter aufs griechische Festland ist bisher niemand gelangt, da die griechische Regierung die Asylverfahren vorerst ausgesetzt hat.
Die Zahlen auf der Balkanroute sind zwar seit 2016 massiv zurückgegangen. Doch Schmuggler finden ständig neue Wege.
In Deutschland stellten nach den neusten Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im Januar 2020 14.187 Menschen einen Asylantrag, davon rund ein Viertel Syrer. Bei rund 2000 Anträgen handelt es sich um in Deutschland auf die Welt gekommene Neugeborene. Der Bericht gibt keine Auskunft darüber, auf welchen Wegen die anderen Antragsteller nach Deutschland gekommen sind .
Was will der türkische Präsident?
Erdoğan hat sich innen- und außenpolitisch in eine schwierige Lage manövriert. In der Türkei nimmt der Unmut über die vielen syrischen Flüchtlinge im Land zu, auch angesichts der schweren Wirtschaftskrise. Außenpolitisch hat Erdoğan seine wichtigsten Partner, die USA und Europa, irritiert und sich in Syrien von Russland abhängig gemacht. Russland und die Türkei verfolgen aber unterschiedliche Interessen in Syrien und allein kann Ankara dem viel mächtigeren Russland wenig entgegensetzen. Nun braucht Erdoğan dringend die Hilfe der USA oder der Europäer - und setzt dafür die in der Türkei lebenden Flüchtlinge und Migranten als Druckmittel ein.
Wie hängt die neue Lage mit den Kämpfen um das syrische Idlib zusammen?
Idlib in Nordsyrien an der türkischen Grenze ist der letzte Teil Syriens, der noch unter Kontrolle der Aufständischen ist. Die dort dominierenden Rebellen sind Islamisten, die von der Türkei unterstützt werden. Gleichzeitig leben aber auch rund drei Millionen Zivilisten in Idlib. Das Assad-Regime in Damaskus hat mit russischer Unterstützung die Schlacht um Idlib eröffnet. Ohne Rücksicht bombardieren syrische und russische Kampfjets Ziele wie Krankenhäuser und Schulen - oft sogar absichtlich. Vor der Offensive mussten bereits knapp eine Million Menschen fliehen. Ankara will verhindern, dass die rund drei Millionen übrigen Syrer aus der Region Idlib nun in die Türkei fliehen.
Warum eskaliert die Lage in Idlib gerade jetzt?
2018 hatten Russland und die Türkei einen Waffenstillstand in Idlib geschlossen. Doch Russlands Partner, der syrische Präsident Baschar al-Assad, will den Rebellen unbedingt auch das letzte Land noch entreißen - und bekam dafür von Moskau grünes Licht. Syrien und Russland haben in Idlib im Dezember 2019 eine neue Offensive gestartet. Die Türkei forderte vergeblich die Rückkehr zum Waffenstillstandsabkommen.
Um den Vormarsch des syrischen Regimes in Idlib zu stoppen, hat die Türkei nun ihrerseits mehr Waffen und Soldaten geschickt. Die Türkei will so zeigen, dass sie in Idlib dem syrischen Regime schmerzliche Verluste zufügen kann. So will Erdoğan seine Position am Verhandlungstisch verbessern. Denn in den kommenden Tagen wird er in Moskau beim russischen Präsidenten Wladimir Putin erwartet. Erdoğan will dort wieder eine Waffenstillstandslinie mit Moskau in Idlib aushandeln, die ihm eine Einflusszone zusichert und ermöglicht, syrische Flüchtlinge aus der Türkei nach Nordsyrien abzuschieben.
Ist der EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei jetzt gescheitert?
Die Türkei ist schon länger unzufrieden damit, wie das Abkommen von den Europäern umgesetzt wurde. Nun steht es tatsächlich auf der Kippe.
Auf dem Papier sah die im März 2016 zwischen der EU und der Türkei geschlossene Vereinbarung folgendes vor: Die Türkei versorgt Flüchtlinge aus Syrien und verhindert deren Weiterreise auf die griechischen Inseln. Die EU unterstützt die syrischen Flüchtlinge in der Türkei mit sechs Milliarden Euro und ermöglicht es Türken ohne Visa in die Schengenzone einzureisen. Zudem verpflichtete sich Ankara, jeden Migranten, der es auf die griechischen Inseln geschafft hat, zurückzunehmen. Für jeden in die Türkei zurückgekehrten Syrer verpflichteten sich die Europäer, einen Syrer direkt aus der Türkei aufzunehmen – ausgewählt nach Bedürftigkeit.
Doch in der Praxis funktionierte nur eine Seite des Deals: Auf den griechischen Inseln kamen kaum noch Flüchtlinge an, zurückgesandt wurde fast niemand. Denn nach griechischem und europäischem Recht dürfen Ankommende auf den griechischen Inseln einen Asylantrag stellen. Doch kommen die griechischen Behörden kaum nach. Die Lager auf den Inseln sind überfüllt. Gleichzeitig wurden nur etwas mehr als 20.000 Syrer aus der Türkei in die EU gelassen - manche EU-Länder machen bei dem Aufnahmeprogramm nämlich nicht mit.
Ankara ist zudem unzufrieden damit, wie die EU ihre Versprechungen umgesetzt hat: Bisher wurden von der EU rund drei Milliarden Euro für Projekte in der Türkei ausgegeben, die syrischen Flüchtlingen zugutekommen. Das heißt, das Geld floss nicht in den türkischen Haushalt, sondern ging vor allem an internationale Hilfsorganisationen. Rund eine weitere Milliarde, so die EU, habe man bereits fest in Aussicht gestellt. Nun könne man mit Ankara über die letzte Tranche sprechen. Visafreies Reisen in die EU gibt es für Türken weiterhin nicht.
Seit Samstag setzt die Türkei ihre Verpflichtungen unter dem Abkommen aus und fordert mehr Hilfe der Europäer. Griechenland hat daraufhin angekündigt, für einen Monat keine Asylanträge anzunehmen und Ankommende sofort in die Türkei zurückzuzwingen - gegen griechisches und europäisches Recht. Die Europäische Kommission und viele EU-Mitgliedstaaten fordern bisher eine Rückkehr zu dem Abkommen, so wie es bisher umgesetzt wurde.
Welche Optionen hat die EU?
Drei Fragen stehen für die Europäer derzeit im Vordergrund: erstens der Schutz der griechisch-türkischen EU-Außengrenze, zweitens das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und drittens die Situation in Idlib
Der Schutz der Grenze hat für Brüssel und die EU-Mitgliedstaaten derzeit die höchste Priorität. Athen hat die EU um Hilfe gebeten. Derzeit wird Verstärkung für die europäische Grenzwache Frontex nach Griechenland entsandt, um die griechischen Behörden nach Bedarf zu unterstützen. Uneinigkeit in der EU scheint es darüber bisher kaum zu geben.
Der zweite Punkt ist unter den EU-Mitgliedstaaten strittiger: Was soll man der Türkei anbieten dafür, dass Sie wieder an dem Abkommen festhält? Dazu kommt als zusätzliche Schwierigkeit, dass die EU nicht erpressbar wirken will und nach dem Brexit auch das Geld gerade ein wenig knapp ist. Denkbar ist, dass die EU mit der Türkei über die dritte Tranche der sechs Milliarden Euro verhandelt oder sogar zusätzliche Gelder in Aussicht stellt. Die Türkei ist ihrerseits ebenfalls verwundbar: Sie steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise, zumal seit ausländische Investitionen ausbleiben. Zudem könnte die EU anbieten, mehr Syrer aus der Türkei aufzunehmen – allerdings bräuchte es dafür eine Koalition der Willigen in der EU, da wohl kaum alle EU-Mitglieder sich dazu bereit erklären würden.
An Idlib haben die Europäer bisher das geringste Interesse gezeigt. Dass die Europäer die Türkei in Idlib militärisch unterstützen, ist so gut wie ausgeschlossen. Allerdings könnten sie der Türkei diplomatisch gegenüber Russland beistehen und ihrerseits den Druck auf das Land erhöhen, um eine vorübergehende Waffenruhe zu erreichen.