EU und die Flüchtlinge Kalt erwischt

Migranten harren hinter Stacheldraht auf türkischer Seite an der Grenze zu Griechenland aus
Foto:Sakis Mitrolidis/ AFP
Eigentlich sollte diese Woche ganz anders verlaufen. Am Mittwoch will Greta Thunberg bei der Sitzung der EU-Kommission vorbeischauen, dann stellt Kommissionschefin Ursula von der Leyen ihr Klimagesetz vor. Es ist das erste Regelwerk ihres Europäischen Grünen Deals, jener Plan, mit dem die EU den Weg in eine klimaneutrale Zukunft finden soll.
Nun drohen die schönen PR-Fotos mit der Klimaaktivistin von anderen, grausamen Bildern verdrängt zu werden. Die Nachrichten von der türkisch-griechischen Grenze haben Brüssel aufgeschreckt. Unabhängig davon, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan das Flüchtlingsdrama mutwillig anheizt - die Eskalation zeigt, dass die EU auf eine mögliche Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015 weiterhin kein bisschen vorbereitet ist.
Die Botschaft, die die Bilder von kleinen Kindern und verzweifelten Eltern zwischen Stacheldrahtzaun, Tränengas und Wasserwerfern senden, ist klar: Europa hat die Zeit seit Ende der großen Flüchtlingsbewegung über die Balkanroute nicht genutzt. "Die Bilder von der griechischen Grenze sind ein Schock", sagt der Europastaatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), dem SPIEGEL. "Es ist höchste Zeit, dass wir als EU nun endlich aufwachen und ein nachhaltiges Migrationskonzept entwickeln."
In Brüssel und den EU-Hauptstädten herrscht mit einem Mal hektische Betriebsamkeit. Die EU-Spitzen etwa sind seit Freitag ständig am Telefon, Kommissionschefin von der Leyen sprach unter anderem mit Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, den Regierungschefs von Bulgarien und Griechenland, Bojko Borissow und Kyriakos Mitsotakis, und natürlich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Ähnlich aktiv sind Ratspräsident Charles Michel und der Außenbeauftrage Josep Borrell. Am Dienstag wollen von der Leyen, Michel und EU-Parlamentspräsident David Sassoli an die griechisch-türkische Landgrenze reisen und sich dort mit Mitsotakis treffen.
Europa bleibt erpressbar
Zwar variieren die Zahlen der Migranten beträchtlich, die vor allem die türkische Seite streut, doch das ändert nichts daran, dass das Flüchtlingsthema zurück auf der europäischen Tagesordnung ist. Nach Angaben der Uno-Organisation für Migration harrten zuletzt rund 13.000 Menschen im Grenzgebiet aus. Tatsächlich über die Grenze haben es, so meldete Athen nach SPIEGEL-Informationen nach Brüssel, bislang nur 66 geschafft.
Mehr Sorge als die Lage an der Landgrenze macht EU-Beamten allerdings der Blick auf griechische Inseln wie Lesbos. Dort leben schon bislang Tausende Flüchtlinge unter kaum menschenwürdigen Bedingungen in völlig überfüllten Lagern. Neuankünfte in größerer Zahl, wie in den letzten Tagen, könnten die explosive Lage gefährlich verschärfen.
Erdogan hat mit seiner Ankündigung, die Grenzen nach Europa zu öffnen, sein Ziel längst erreicht. Das Wochenende mit den Bildern des Flüchtlingselends zeigt, wie erpressbar Europa weiterhin ist. Dem türkischen Präsidenten geht es zunächst um den sogenannten Türkeideal von 2016, wenn man so will den einzigen Baustein der EU-Flüchtlingspolitik, der bislang einigermaßen funktionierte: Die Türkei hat sich darin verpflichtet, gegen die illegale Migration vorzugehen und Flüchtlinge, die auf die griechischen Inseln gelangen, zurückzunehmen. Im Gegenzug sagte die EU unter anderem zu, insgesamt sechs Milliarden Euro für die Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge zu zahlen.
Dieses Geld, und das ärgert die türkische Regierung, wird jedoch nicht einfach nach Ankara überwiesen, sondern fließt direkt in Projekte, die den syrischen Flüchtlingen zugutekommen. Die Projekte werden von der EU-Kommission und den Türken gemeinsam auswählt, es geht um humanitäre Hilfe, den Bau von Schulen oder Krankenhäusern. Bezahlt wird aber erst, wenn die Leistung erbracht ist. Obwohl die kompletten sechs Milliarden Euro bereits für konkrete Projekte verplant sind, sind daher tatsächlich erst etwa 3,2 Milliarden Euro ausbezahlt, ein Umstand, den die türkische Regierung immer wieder kritisiert.
Beim Allgemeinen Rat, dem Treffen der EU-Europaminister, sprach Europastaatsminister Roth vergangene Woche, also vor den aktuellen Ereignissen, die Zukunft des Türkeideals an – auf viel Verständnis im Kreis der Ministerkollegen stieß er nicht. "Wir haben es in der EU bislang nicht geschafft, uns auf eine tragfähige Migrationspolitik mit Verteilungsschlüssel zu einigen", sagt Roth. "Daher ist unser Geld gut angelegt, wenn wir den syrischen Flüchtlingen in der Türkei weiterhelfen."
Auch Kanzlerin Merkel hat sich längst dafür ausgesprochen, weiter Geld für die rund 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge zu zahlen, die die Türkei bislang aufgenommen hat. Zumal die Zahl infolge der Offensive des syrischen Machthabers Baschar al-Assad in Idlib weiter steigen dürfte. Die Angst vor neuen Flüchtlingen, so beobachten EU-Diplomaten, setze Erdogan in der Türkei zudem innenpolitisch unter Druck. Auch so erklärt man sich in Brüssel die aktuelle Provokation an der griechischen Grenze.
Die EU-Botschafter sollen nun am Montagnachmittag in Brüssel klären, ob das informelle Treffen der Außenminister am Donnerstag und Freitag in Zagreb um ein ordentliches Außenministertreffen ergänzt werden soll. Was wie ein Detail anmutet, ist nicht ganz unerheblich - denn nur dann wäre die EU bei der Runde auch beschlussfähig.
Schwieriger Neustart der Flüchtlingspolitik
Doch auch das Treffen kann nicht überdecken, dass die EU die mit dem Türkeiabkommen gekaufte Zeit nicht genutzt hat, um eine europäische Lösung für die Migrationsfrage zu erarbeiten. Mit den sinkenden Flüchtlingszahlen in Griechenland und im Mittelmeer sank der Druck, zu einer Einigung zu kommen, weiter. Dass beim Sondergipfel zum künftigen mehrjährigen EU-Budget vor gerade mal zehn Tagen die Gelder für den Ausbau der EU-Grenzschutztruppe Frontex in den letzten Entwürfen zuletzt sogar wieder eingedampft werden sollten, mutet im Nachhinein wie ein schlechter Witz an. Frontex kündigte am Wochenende an, den Griechen mit Material und Personal zu helfen. Derzeit sind etwa 400 Frontex-Beamte auf den griechischen Inseln und 60 in Bulgarien im Einsatz.
Der von Kommissionschefin von der Leyen versprochene Neustart in der Flüchtlingspolitik erweist sich nun schon nach kurzer Zeit erwartungsgemäß als komplizierte Angelegenheit. Zwar bereisten der für die Migration zuständige Vizepräsident Margaritis Schinas und Innen-Kommissarin Ylva Johansson in den vergangenen Monaten so gut wie alle EU-Hauptstädte, um zu sehen, ob ein Kompromiss in der Flüchtlingsfrage möglich ist. Konkrete Erfolge sind bislang allerdings nicht bekannt. Ein entscheidendes Problem bleibt, dass einige EU-Länder in Osteuropa nicht bereit sind, sich für den Ernstfall zu verpflichten, eine bestimmte Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen.
Hardliner wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán wissen die neue Lage ohnehin – ganz im Sinne Erdogans – bestens für sich zu nutzen. Sein Mitgefühl gehöre den Griechen, sagte Orbán am Freitag im ungarischen Radio. "Aber ich muss feststellen: Griechenland ist nicht in der Lage, zu verhindern, dass die Migranten durch das Land gelangen, durch das Landesgebiet Griechenlands hindurchgehen."
Auch seine Botschaft ist klar und an Brüssel gerichtet: Notfalls muss das christliche Abendland wieder einmal von Leuten wie ihm gerettet werden.