Frankreich Im Namen der Sicherheit

Mit aller Macht versucht Frankreichs Innenminister, ein umstrittenes Sicherheitsgesetz durchzusetzen. Journalisten sehen darin einen Angriff auf die Pressefreiheit. Auch ein brutaler Polizeieinsatz stellt das Gesetz infrage.
Innenminister Gérald Darmanin, Präsident Emmanuel Macron (M.) in einem Vorort von Paris

Innenminister Gérald Darmanin, Präsident Emmanuel Macron (M.) in einem Vorort von Paris

Foto: POOL / REUTERS

Es ist nicht so, dass Emmanuel Macron gerade Langeweile hätte. Am vergangenen Wochenende bereitete er seine mit Spannung erwartete Rede an die Franzosen vor, die er gestern Abend um Punkt 20 Uhr im Fernsehen hielt. Es ging um die Frage, wie lange die Bürger im ganzen Land während des Lockdowns noch einen Passierschein ausfüllen müssen, wenn sie das Haus verlassen wollen; wie lange noch die Beschränkung gilt, sich in einem Radius von nur einem Kilometer vom Wohnort entfernen zu dürfen, und wie viel ihnen der Staat in den kommenden Wochen und Monaten zumutet.

Macron versprach einige Lockerungen und bat ansonsten weiterhin um Geduld im Kampf gegen das Virus. Immerhin: Ab Samstag können wieder alle Geschäfte öffnen und die Ein-Kilometer-Regel entfällt für »physische Aktivitäten«. Restaurants, Cafés und Bars allerdings bleiben geschlossen, und die Bewegungsfreiheit der Franzosen bleibt stark eingeschränkt, voraussichtlich bis zum 20. Januar.

Am heutigen Mittwoch tagt der Ministerrat im Élysée-Palast; am Donnerstag wird der Präsident einen der letzten Überlebenden der französischen Résistance, den ehemaligen Sekretär Jean Moulins, im Ehrenhof des Invalidendoms mit einer nationalen Trauerfeier würdigen. Irgendwann in diesen Tagen wird er sich auch überlegen müssen, wie er den von seinem im Juli ernannten Innenminister Gérald Darmanin entfachten Streit über die Pressefreiheit in Frankreich beenden will.

Darmanin, 38 Jahre alt und einer der ehrgeizigeren Minister im Kabinett, setzt sich seit Wochen für ein neues Sicherheitsgesetz ein. Der Entwurf sollte eigentlich die Polizeigewerkschaften beruhigen und, das scheint das politische Kalkül des Innenministers zu sein, absehbar auch die Konservativen und die populistische Rechte. Darmanin hat einst den Wahlkampf für Nicolas Sarkozy organisiert, er ist von den konservativen Les Républicains (LR) ins Macron-Lager übergelaufen. Bei seinem Amtsantritt kündigte er an, er wolle Gewicht haben in dieser Regierung, eine wichtige Rolle spielen. Das ist ihm gelungen.

Rücktrittsforderungen und ein landesweiter Streit über Pressefreiheit

Mittlerweile hat er mit dem neuen »Gesetz zur globalen Sicherheit«, dessen umstrittenster Artikel 24 am vergangenen Freitag im Parlament verabschiedet wurde, die gesamte nationale Presse gegen sich aufgebracht. Denn Artikel 24 sieht vor, Polizisten während eines Einsatzes nicht mehr filmen zu dürfen und die Verbreitung dieser Bilder in den sozialen Netzwerken unter Strafe zu stellen. Bis zu 45.000 Euro Geldstrafe und ein Jahr Gefängnis sollen jedem drohen, der die neue Regelung nicht befolgt.

Auf den letzten Metern wurde der Gesetzentwurf zwar vom Premierminister entschärft und mit einem Zusatz versehen. Strafbar ist das Filmen per Handy oder Kamera demnach nur, wenn es in der Absicht geschieht, dem betroffenen Polizisten »physisch oder psychisch Schaden« durch die Verbreitung der Bilder zuzufügen. Den Protest von Journalistenverbänden, den führenden Medien des Landes und zahlreichen prominenten Kulturschaffenden konnte dies trotzdem nicht stoppen. Denn wie, so fragen sie sich, können Polizeibeamte während des Einsatzes beurteilen, in welcher Absicht Aufnahmen erstellt werden? Und gibt ihnen das neue Gesetz nicht genau deshalb die Handhabe, Filmaufnahmen von vornherein zu verbieten oder einzuschränken?

Die neue Regelung widerspreche einem demokratischen Grundrecht, schrieb der Redaktionsleiter von »Le Monde«, Jérôme Fenoglio, in einem wütenden Editorial und verlangte, Artikel 24 des Sicherheitsgesetzes sofort wieder zu streichen, weil er der Zensur von Journalisten Vorschub leiste. Ricardo Gutiérrez, Präsident der »Fédération Europénne des Journalistes«, die über 300.000 Mitglieder hat, forderte Darmanins Rücktritt, nachdem der Innenminister ihn wie andere Pressevertreter am Montagabend zu einem Gespräch empfangen hatte, das die Gemüter eigentlich hätte besänftigen sollen.

Verstörende Bilder von der Place de la République

Dumm nur, dass zur selben Zeit ein Polizeieinsatz an der Pariser Place de la République stattfand, der auf absurde Weise Darmanins Gesetzentwurf infrage stellt. Am frühen Abend hatten verschiedene Verbände, die sich für Migranten engagieren, Hunderte kleine Zelte auf dem Platz aufgestellt. Sie wollten mit der Aktion gegen die unzureichende Unterbringung von Flüchtlingen in der Hauptstadt protestieren. Nachdem Mitte November ein illegales Camp in Saint-Denis am Stadtrand von der Polizei gewaltsam aufgelöst wurde, irren 700 bis 1000 Migranten in Paris umher, weil weder der Staat noch die Stadt ihnen eine alternative Unterkunft anbot.

Und so standen gegen 19 Uhr am Montag, ordentlich aneinandergereiht und einer Kunstinstallation gleich, kleine blau-schwarze Wurfzelte auf dem Platz – in ihnen wollten vor allem Geflüchtete aus Afghanistan die Nacht verbringen. Es war ein illegales Camp, wie man es sonst nur von den Rändern der Stadt kennt, aufgestellt als Provokation, damit endlich etwas geschieht. Stadträte aus dem Rathaus begleiteten die Aktion, Anwälte waren auf dem Platz.

Geflüchtete und Helfer auf der Pariser Place de la République am 23. November: Damit endlich etwas geschieht

Geflüchtete und Helfer auf der Pariser Place de la République am 23. November: Damit endlich etwas geschieht

Foto: MARTIN BUREAU / AFP

Was anschließend geschah, ist gut dokumentiert, auch dank zahlreicher Handyvideos von Journalisten, also genau jener Aufnahmen, die der Innenminister verbieten will. Sie zeigen Polizisten, die mit schnellen Handgriffen die kleinen blau-schwarzen Wurfzelte umdrehen, die Menschen in ihnen einfach auf die Straße kippen und wie Abfall aus ihnen herausschütteln. Sie zeigen Polizeibeamte, die den Flüchtlingen ein Bein stellen und Journalisten mithilfe von Schlagstöcken zu Boden pressen. Es sind verstörende Bilder.

Brutaler Polizeieinsatz: Erst die Bilder informierten die breite Öffentlichkeit über Vorgehen

Brutaler Polizeieinsatz: Erst die Bilder informierten die breite Öffentlichkeit über Vorgehen

Foto: Noà mie Coissac / imago images/Hans Lucas

Die Bürgermeisterin protestiert in einem offenen Brief

So verstörend, dass sie am nächsten Tag eine Welle der Empörung auslösen werden: Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, protestiert in einem offenen Brief an den Innenminister gegen die gewaltsame Räumung, die der humanitären Pflicht Frankreichs widerspreche. Vertreter der NGO Médicins du Monde, die die Aktion unterstützt hatten und vor Ort waren, kritisieren das Vorgehen der Polizeikräfte. Der Parteichef der Sozialisten, Olivier Faure, erklärt am Morgen im Radiosender France Inter, er sei fassungslos, die Regierung müsse das geplante Sicherheitsgesetz zurückziehen. Die französische Sektion von Ärzte ohne Grenzen hat mittlerweile offiziell eine Beschwerde gegen die Polizeipräfektur von Paris eingereicht.

Auf dem Twitteraccount des Journalisten Nicolas Mayart ist ein Video zu sehen, auf dem Polizeibeamte den Journalisten Rémy Buisine von der Onlineplattform »Brut« mit dem Schlagstock bedrohen und brutal am Boden festhalten. Es wird über 900.000 Mal aufgerufen.

Auch Darmanin erklärt, er sei zutiefst schockiert, und gibt bei der Polizeiinspektion eine Untersuchung der Vorgänge in Auftrag. Grundlage für seine Entscheidung sind Handyvideos, die er offiziell verbieten will. Der Innenminister wollte ursprünglich vermeiden, dass einzelne Polizisten erkennbar mit Gesicht und Identität in den sozialen Medien exponiert und an den Pranger gestellt werden. Das war das Versprechen. Nur der Versuch, es umzusetzen, ging gnadenlos schief.

Verkehrte Welt im Parlament

Am gestrigen Dienstag verabschiedete das Parlament trotzdem das neue Gesetzespaket. Zuvor allerdings hatte Premierminister Jean Castex angekündigt, den »Conseil Constitutionnel«, den Verfassungsrat, anzurufen, um von ihm überprüfen zu lassen, dass die Initiative seines Innenministers die in der Verfassung garantierten Freiheiten der Presse nicht verletzt.

Es gibt ein Kinderspiel, das »Verkehrte Welt« heißt. Der Spaß dabei besteht darin, die bestehenden Verhältnisse umzudrehen. In einer verkehrten Welt ist es im Sommer bitterkalt und Kinder bringen ihre Eltern ins Bett und nicht umgekehrt. Oder aber Premierminister lassen im Nachhinein verabschiedete Gesetze ihres Innenministers auf ihre Verfassungstauglichkeit überprüfen.

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