Frauenmorde in Argentinien »Für Úrsula, für all die anderen«

Seit Jahren protestieren Argentinierinnen gegen Frauenmorde, der Staat versucht zu reagieren. Doch die Zahl der Femizide sinkt nicht. Die Eltern einer getöteten 18-Jährigen wollen jetzt einen Richter verklagen – wegen Untätigkeit.
Aus Buenos Aires berichten Karen Naundorf und Sarah Pabst (Fotos)
Úrsula, 18, wurde von ihrem Ex-Freund getötet, mehrmals hatte sie ihn zuvor angezeigt

Úrsula, 18, wurde von ihrem Ex-Freund getötet, mehrmals hatte sie ihn zuvor angezeigt

Foto: Sarah Pabst
Globale Gesellschaft

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Úrsula könnte noch leben. Mindestens dreimal hatte die 18-Jährige Anzeige erstattet gegen ihren Ex-Freund, einen Polizisten. Doch am 8. Februar 2021 erstach er sie mit einem Fleischermesser. Es war ein Mord mit Ankündigung. »Si no vuelvo, rompan todo«, hatte Úrsula zuletzt bei Instagram geschrieben: »Wenn ich nicht zurückkomme, schlagt alles kurz und klein.«

Schon wieder ein Frauenmord, schon wieder ein Polizist als Täter: Mindestens zwölf Prozent aller Frauenmorde 2021 wurden von Polizisten, Ex-Polizisten oder Soldaten begangen. Zu Tausenden gingen die Argentinierinnen auf die Straßen; der Präsident Alberto Fernández empfing die Eltern im Regierungspalast; der Papst rief an. In nur 19 Tagen schloss der Staatsanwalt die Ermittlungen ab, und im Dezember wurde Matías Ezequiel Martínez verurteilt. Er bekam lebenslänglich.

Úrsulas Eltern Patricia Nasutti und Adolfo Bahillo in ihrer Küche: »Wir werden alle zur Verantwortung ziehen, die den Mord hätten verhindern können«

Úrsulas Eltern Patricia Nasutti und Adolfo Bahillo in ihrer Küche: »Wir werden alle zur Verantwortung ziehen, die den Mord hätten verhindern können«

Foto: Sarah Pabst

Úrsula tot, der Täter im Gefängnis. Eigentlich könnte die Geschichte hier enden. Doch das wollen die Eltern nicht zulassen: »Wir werden alle zur Verantwortung ziehen, die den Mord hätten verhindern können«, sagt Vater Adolfo Bahillo, seine tiefe Stimme klingt entschlossen.

Nach der Tat kam heraus: Eigentlich hätte der Täter zum Tatzeitpunkt im Gefängnis sitzen müssen. Matías Ezequiel Martínez steht im Verdacht, ein minderjähriges behindertes Mädchen vergewaltigt zu haben. Vier Wochen vor dem Mord an Úrsula beantragte ein Staatsanwalt die Untersuchungshaft von Martínez. Doch Januar ist Hochsommer in Argentinien, der Polizist blieb frei. »Wenn der Richter den Mörder am 5. Januar verhaftet hätte, wäre Úrsula heute am Leben. Aber wahrscheinlich war es heiß und der Richter saß am Pool«, sagt Mutter Patricia Nasutti.

Überlastete Justiz in Buenos Aires: Tausende offene Fälle für drei Staatsanwälte

Überlastete Justiz in Buenos Aires: Tausende offene Fälle für drei Staatsanwälte

Foto: Sarah Pabst

Die Justiz, zu langsam, mal wieder: Schon 2017 hatte eine Ex-Freundin Martínez wegen Gewalt angezeigt. Unter anderem, weil er sie mit der Dienstwaffe bedroht hatte. Vier Jahre lang blieb Martínez unbehelligt. Das Urteil fiel zwei Wochen nach dem Mord an Úrsula – vier Jahre Haft.

Seit Jahren protestieren die Frauen in Argentinien gegen Femizide und fordern den Staat auf, effizienter gegen Gewalt an Frauen vorzugehen. Und tatsächlich haben die Proteste der »Ni una menos«-Bewegung (»nicht eine weniger«) viel bewegt: Kinder ermordeter Frauen erhalten eine – wenn auch geringe – Waisenrente; ein Ministerium für Gender, Frauen und Diversität wurde eingerichtet; alle Beamten müssen eine Schulung in Gender-Themen absolvieren, vom Pförtner bis zum Präsidenten. Abtreibungen wurden legalisiert – auch ein wichtiger Schritt für Frauenrechte.

Doch die Zahl der Frauenmorde sinkt nicht. Mehr als 220 Femizide gab es allein im Jahr 2021. Ein Fünftel der Frauen hatte zuvor Anzeige gegen ihren späteren Mörder erstattet, so Zahlen der Nichtregierungsorganisation Mumalá, die Statistiken zu Gewalt gegen Frauen erstellt. Noch immer gibt es zu wenig Personal in der Justiz. Zu wenige Frauenhäuser. Anzeigen werden nicht immer ernst genommen, Frauen nicht genug geschützt, nicht ausreichend psychologisch betreut.

Und der Richter, der Martínez vor dem Mord hätte verhaften können, ist nach wie vor im Amt. »Der Staat hat mir meine Tochter genommen«, sagt Patricia Nasutti, die Mutter von Úrsula. Sie raucht eine Abendzigarette vor der Haustür und schaut in den Sternenhimmel: »Irgendwo da oben ist sie. Wir werden kämpfen. Für Úrsula, für all die anderen.«

Sehen Sie in der Bilderstrecke*, wie Úrsulas Mutter nach dem Tod ihrer Tochter kämpft:

*Die Fotos wurden in Zusammenarbeit mit dem Pulitzer Center on Crisis Reporting produziert.

Fotostrecke

Frauenmorde in Argentinien: »Der Staat hat mir meine Tochter genommen«

Foto: Sarah Pabst

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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