Pushback-Skandal Rechtsanwälte wollen Frontex-Chef Leggeri vor Gericht bringen

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist in der Ägäis in Menschenrechtsverstöße verstrickt. Juristen wollen nach SPIEGEL-Informationen nun gerichtlich gegen Behördenchef Leggeri vorgehen.
Türkische Grenzbeamte retten Schutzsuchende

Türkische Grenzbeamte retten Schutzsuchende

Foto: Emrah Gurel / AP

Ein Team von Anwälten möchte die europäische Grenzschutzagentur Frontex rechtlich dazu zwingen, sich aus der Mission in der Agäis zurückzuziehen. Das geht aus einem Schreiben hervor, das der SPIEGEL einsehen konnte.

Die Gruppe um die Rechtsanwälte Omer Shatz, Iftach Cohen und Anastasia Ntailiani erhebt in dem Schreiben schwere Vorwürfe gegen Frontex-Chef Fabrice Leggeri. »Frontex macht sich mitschuldig an der griechischen Politik, schutzbedürftige Migranten auf dem Meer auszusetzen«, sagt Shatz.

Die illegalen Pushbacks in der Ägäis, die der SPIEGEL gemeinsam mit Recherchepartnern mehrfach dokumentiert hat, bezeichnet er als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«; es handele sich um illegale Ausweisungen, Folter und potenziellen Mord.

Shatz will vor den Europäischen Gerichtshof ziehen

Leggeri ist nach Artikel 46 der Frontex-Regularien  dazu verpflichtet, Missionen zu beenden, wenn er von schwerwiegenden und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen erfährt. Nach Ansicht von Shatz erfüllen die systematischen Pushbacks diese Definition. Er und seine Kolleginnen und Kollegen haben Leggeri nun schriftlich aufgefordert, die Mission in der Ägäis zu beenden. Falls er das nicht tut, wollen sie vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ziehen.

Fabrice Leggeri: immer mehr Untersuchungen gegen Frontex

Fabrice Leggeri: immer mehr Untersuchungen gegen Frontex

Foto: Virginia Mayo / AP

Shatz lehrt an der Pariser Hochschule Sciences Po. Er und Cohen gehören zur Organisation Front-Lex, die sich mit Rechtsbrüchen an den EU-Außengrenzen beschäftigt. Ntailiani arbeitet für das Legal Centre Lesvos, eine NGO.

Die Anwälte legen in dem Schreiben auf 32 Seiten dar, wie Frontex seit Anfang März 2020 systematisch der griechischen Küstenwache bei Rechtsbrüchen assistiert und sie deckt. In weiten Teilen basiert es auf den Recherchen des SPIEGEL und seiner Partner.

Frontex in illegale Pushbacks involviert

Seit Mai 2020 hat der SPIEGEL nachgezeichnet, wie die griechische Küstenwache in der Ägäis Boote mit Geflüchteten stoppt, die Motoren zerstört und die Migrantinnen und Migranten auf dem Meer aussetzt – entweder in den Schlauchbooten selbst oder auf aufblasbaren Rettungsflößen. Oft werden die Menschen Stunden später von der türkischen Küstenwache gerettet. Unter den Ausgesetzten sind neben Männern und Frauen auch Kinder. Bei mindestens sieben der Pushbacks, so zeigen es die Recherchen, waren Frontex-Einheiten in der Nähe oder involviert.

Auf dem Meer ausgesetzte Flüchtlinge: Todesangst

Auf dem Meer ausgesetzte Flüchtlinge: Todesangst

Foto: Emrah Gurel / AP

Die Juristinnen und Juristen beschreiben in ihrem Bericht, wie europäische Grenzbeamten die illegalen Aktionen der griechischen Küstenwache unterstützen. Die Offiziere im Frontex-Dienst übergeben die Geflüchtete nicht nur an die griechischen Kollegen, teilweise sehen sie sogar mit an, wie die Küstenwache sie zurückschleppt. Eine schwedische Crew beobachtete, wie griechische Grenzbeamte ein Seil an ein Boot mit Geflüchteten festmachten und die Migranten in türkische Gewässer zurückzogen. Eine deutsche Crew bekam am 10. August mit, wie die griechische Küstenwache Geflüchtete an Bord nahm und später ohne sie in den Hafen zurückkehrte.

»Leggeri und seine Mitarbeiter laufen Gefahr, sich selbst strafbar zu machen.«

Omer Shatz

Shatz und seine Partner werfen Leggeri zudem vor, das Europaparlament in die Irre geführt zu haben. Leggeri verschwieg den Abgeordneten unter anderem einen Pushback der griechischen Küstenwache in der Nacht des 18. auf den 19. April. Ein Frontex-Flugzeug hatte den Rechtsbruch ins Frontex-Hauptquartier in Warschau gestreamt.

Der Frontex-Chef sprach gegenüber den Abgeordneten davon, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Frontex-Grenzschützer in einen Pushback involviert seien. Tatsächlich gibt es davon Videos, die der SPIEGEL verifizieren konnte. Leggeris Aussage sei »mindestens irreführend«, so Shatz und seine Partner in dem Schreiben.

Sonstige / nicht nicht zuzuordnen

»Frontex hat sowohl eine negative Pflicht als auch eine positive Pflicht«, sagt Shatz. Die Agentur dürfe sich in keiner Weise an Aktionen beteiligen, die Menschenrechte oder den Flüchtlingsschutz missachten. »Sie muss aber auch aktiv sicherstellen, dass es innerhalb ihres Mandats nicht zu solchen Rechtsbrüchen kommt.«

Sollte es zu einem Gerichtsverfahren kommen, könne das zur Entlassung von Leggeri führen, glaubt Shatz. Der Frontex-Direktor sei persönlich dafür verantwortlich, dass die EU-Agentur sich nicht von der Operation zurückgezogen habe. Leggeri wisse von den Verbrechen. »Leggeri und seine Mitarbeiter laufen Gefahr, sich selbst strafbar zu machen«, sagt Shatz.

Parlament, Ombudsfrau und Antibetrugsbehörde untersuchen Frontex

Frontex hat unter Leggeri immer mehr Befugnisse und Geld erhalten. Das Budget der Agentur wuchs von gut sechs auf zuletzt rund 460 Millionen Euro. Bis 2027 werden die europäischen Steuerzahler Frontex 5,6 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Doch die Agentur versinkt zunehmend im Chaos.

Die Europäische Ombudsfrau Emily O'Reilly hat mittlerweile zwei Untersuchungen gegen Frontex eingeleitet. Einerseits geht es um die Pushbacks und Frontex' interne Kontrollmechanismen; andererseits um fehlende Transparenz. Die Agentur weigert sich, EU-Parlamentarierinnen und EU-Parlamentariern die Positionsdaten der eigenen Schiffe zur Verfügung zu stellen.

Das Europaparlament hat eine eigene Prüfgruppe gegründet, um die Vorwürfe zu untersuchen. Sie soll nun vier Monate lang Zeugen und Expertinnen befragen und dann einen Bericht erstellen. Linke, sozialdemokratische und grüne Abgeordnete fordern schon jetzt Leggeris Rücktritt.

Die EU-Antibetrugsbehörde Olaf ermittelt nach SPIEGEL-Recherchen gegen den Frontex-Chef persönlich. Es geht unter anderem um die Pushbacks, einen möglichen Betrugsfall und die Frage, ob Leggeri oder sein Kabinettschef Kolleginnen und Kollegen anschreien oder hinter ihrem Rücken schlecht über sie reden. Der Fragenkatalog liest sich, als stehe Leggeris gesamter Führungsstil auf dem Prüfstand.

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