Warten auf ein amerikanisches Visum Warum afghanische Geflüchtete in Ruanda ausharren
Großbritannien will künftig Asylbewerber direkt nach Ruanda verfrachten, egal woher sie kommen. Schon jetzt leben einige Geflüchtete aus Afghanistan in dem afrikanischen Land – und berichten Abenteuerliches.

Fatema Samim (r.) mit ihrer Familie in Kigali, Ruanda: Die Dekanin einer Universität in Afghanistan floh, nachdem die Taliban ihre Heimat eingenommen hatten
Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Als aus den Radkästen der schweren Transportmaschinen Menschen wie Steine zu Boden fallen, als vor dem Flughafen in Kabul Gewehrsalven dröhnen, blickt Fatema Samim auf Gorillas. Gorillas, die sich mit ihren Fäusten auf den Bauch klopfen. Gorillas, die von Hügeln in die Ferne blicken. Aus ihrem Laptop blicken ihr diese Gorillas entgegen, es sind die Google-Suchergebnisse zum Stichwort »Ruanda«.
Wenige Stunden zuvor hatte Samim erfahren, dass sie in das kleine Land in Ostafrika reisen wird. Sie, die Dekanin der renommierten Ingenieursfakultät an der Universität Herat. Samim, die Tochter eines Professors und ehemaligen Parlamentsabgeordneten. Ihr Leben im Westen Afghanistans war gut, sie forschte mit einem renommierten US-Stipendium, hatte es als Frau an die Spitze des Wissenschaftsbetriebs geschafft. Nun standen die Taliban vor Herat und wollten Frauen in Burkas stecken. Fatema Samim floh mit ihrem Mann und den Kindern in die Hauptstadt Kabul, doch auch dort fielen wenig später die Taliban ein.
Dann kam dieser Anruf. Die Nationale Akademie der Wissenschaften aus den USA war dran – die Organisation, die Samims Forschungen in Afghanistan finanziert. Die Anrufer machten ihr ein Angebot: Man könne sie und weitere Afghanen nach Ruanda evakuieren, dort seien sie immerhin in Sicherheit. Von dort werde man sich um ein Visum für die USA bemühen.

Einkauf in Ruandas Hauptstadt Kigali: »Ich hatte noch nie zuvor etwas von Ruanda gehört«, sagt Fatema Samim
Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL»Ich hatte noch nie zuvor etwas von Ruanda gehört«, erinnert sich Fatema Samim an die absurde Situation. »Also habe ich den Computer angemacht und im Internet recherchiert. Und da kamen all diese Bilder von Gorillas. Ich habe es meinen Kindern gezeigt, und wir dachten, sie würden hier überall auf den Straßen rumlaufen.«
Inzwischen sitzt Samim in einem schicken Café mit Aussicht über die grünen Hügel von Ruandas Hauptstadt Kigali, sie rührt mit dem Löffel vorsichtig im Teeglas, zieht ihr dunkelblaues Kopftuch zurecht. Keine Gorillas weit und breit, die gibt es nur im Nationalpark. »Die Kinder waren schon enttäuscht«, sagt die Afghanin mit einem Lächeln.
Durch ein großes Fenster sieht sie die US-Flagge im Wind wehen, die amerikanische Botschaft liegt genau gegenüber. Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit dem SPIEGEL wartet Samim noch auf einen Termin für ihre Visumsanhörung, seit mehr als vier Monaten hängt sie da bereits in Ruanda fest, im Ungewissen.

Fatema Samim: »Die Amerikaner denken wohl, wir seien jetzt in Sicherheit, da kümmern sie sich nicht mehr um unsere Fälle«
Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL
»An sich geht es uns gut hier. Nur meine Kinder mögen es nicht in der Schule«, erzählt die Afghanin
Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL
Samims Familie möchte ihr neues Leben starten – in den USA
Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGELDabei sollten die sogenannten Special Immigrant Visa für Afghaninnen und Afghanen, die in US-Diensten standen, eigentlich schnell gehen. »Die Amerikaner denken wohl, wir seien jetzt in Sicherheit, da kümmern sie sich nicht mehr um unsere Fälle«, sagt Samim. Immerhin: Sie sind in Sicherheit. Wenn auch in einem Land, das ihnen völlig fremd ist.
»Das Schwierigste ist, nicht zu wissen, wie es weitergeht. Die Leute hier sind sehr nett zu uns, aber wir wollen gern unser neues Leben starten«, erzählt sie. Ein Leben in den USA. »An sich geht es uns gut hier. Nur die Schule meiner Kinder ist nicht so toll«, erzählt die Afghanin. Vieles ist anders als in ihrer Heimat: Die Landschaft ist grün, es regnet oft, dann liegt dieser Geruch von feuchter Erde über der Stadt.
Samim und ihre Familie konnten kaum etwas mitnehmen in ihr neues Leben, sie packten schnell die nötigsten Kleidungsstücke zusammen. In ihrer neuen Wohnung in einer schicken Gegend Kigalis deutet nichts darauf hin, dass hier eine afghanische Familie wohnt. Nur zwei Gegenstände hat sie aus ihrer Heimat auf die Schnelle mitnehmen können, Samim hütet sie wie einen Schatz: eine Packung Tee und einen kleinen Sack afghanische Samen. Ab und zu serviert sie Besuchern diese Kostbarkeiten, driftet für ein paar Minuten ab in die Illusion ihres alten Lebens. Bis von draußen ruandische Musik dröhnt oder eines dieser tropischen Gewitter über die Stadt zieht. Dann wird sie daran erinnert, dass sie nun in einer fremden Welt lebt.
Die Kinder toben im Hof, immerhin ist in dieser neuen Welt für alles gesorgt. Die Nationale Akademie der Wissenschaften in den USA kommt für die Miete auf, es soll der Topwissenschaftlerin an nichts fehlen. Nur die Heimat, die fehlt.

Taliban patrouillieren im Oktober 2021 durch Kabul
Foto:Marco Di Lauro / Getty Images

Evakuierung mithilfe der US-Luftwaffe: Afghaninnen und Afghanen fliehen Ende August 2021 vor den Taliban aus Kabul
Foto: Handout / U.S. Air Forces Europe-Africa via Getty ImagesNeulich fuhren sie alle zusammen an den See, die Kinder badeten. »Sie hatten so viel Spaß, in Afghanistan gab es keine Gewässer in der Nähe«, erinnert sich Fatema Samim. Sie und fünf weitere Geflüchtete aus Afghanistan haben sogar einen Job in Kigali bekommen, sie sollen an der Uni einen Lehrplan ausarbeiten, eine internationale Konferenz organisieren. Jeden Tag schließen sie morgens das Büro ganz am Ende eines langen Flures auf, hier sitzen sie alle gemeinsam, nur selten kommt mal jemand vorbei. Es sind Semesterferien. »Wir haben nicht so viel zu tun, aber immerhin haben wir eine Aufgabe«, erzählt ein Kollege von Fatema. Doch die meiste Zeit schauen sie auf ihre Handys, verfolgen die Nachrichten in Afghanistan.
Am Telefon erreicht man den Mann, der die verrückte Aktion geplant hat: Vaughan Turekian, Exekutivdirektor der Abteilung für Globale Angelegenheiten an der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Er klingt noch immer etwas abgehetzt, obwohl er gerade ein paar Tage freihat. Die Rettung der Stipendiaten aus Afghanistan wurde zu seinem Vollzeitjob, mit langen Tagen und sehr kurzen Nächten.
»Als die Taliban das Land übernahmen, wurde schnell klar: Die US-Regierung fühlte sich in keiner Weise verantwortlich für diese Menschen. Also mussten wir selbst etwas unternehmen«, erzählt er. Ganz am Anfang stand die Frage: Wohin können die gefährdeten Afghaninnen und Afghanen gebracht werden? Die USA fielen als schnelle Lösung aus, also musste eine Alternative her.
Turekian machte ein paar Anrufe, unter anderem rief er einen alten Freund an, den ehemaligen Bildungsminister von Ruanda. Der schlug vor, direkt bei Präsident Paul Kagame anzufragen. Es dauerte nicht lange, da kam die Zusage. »Also telefonierten wir die Leute in Afghanistan ab und haben ihnen erzählt, dass sie nach Ruanda können. Die meisten haben direkt gefragt: Wo liegt dieses Ruanda? Am Ende haben 5 von 15 Ja gesagt«, erinnert sich der NAS-Verantwortliche.
Ruanda versucht sich seit Langem als flüchtlingsfreundliches Land zu positionieren, sehr zur Freude des sich abschottenden Globalen Nordens. Denn der afrikanische Staat steht zu Diensten, wenn Europa mal wieder eine Lösung sucht, um Geflüchtete nicht selbst aufnehmen zu müssen. Beispiele gibt es dafür inzwischen mehrere.
So finanziert die EU ein Flüchtlingslager südlich der Hauptstadt Kigali. Dorthin werden Menschen geschickt, die in libyschen Migrantengefängnissen schlimmste Torturen erleiden mussten. Doch statt sie direkt nach Europa zu evakuieren, nutzt die EU Ruanda quasi als Parkplatz – aus den Augen, aus dem Sinn. Der SPIEGEL hat das Lager im vergangenen Jahr besucht, viele Geflüchtete beschwerten sich, dass sie seit Monaten ohne Perspektive festhingen.
Mitte April ist noch ein weiterer zynischer Deal hinzugekommen: Großbritannien will künftig Asylbewerber, die über den Ärmelkanal nach England kommen, postwendend nach Ruanda verfrachten. Ihr Asylantrag wird dann in Afrika geprüft – allerdings nicht mit dem Ziel, anschließend doch wieder nach Europa zu dürfen. In Ruanda ist Endstation, das soll künftige Flüchtlinge abschrecken. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen laufen bereits Sturm gegen diesen Plan.

Fatema Samim mit ihrem Ehemann, ihren zwei Kindern und ihrem Neffen: Ruanda versucht sich seit Langem als flüchtlingsfreundliches Land zu positionieren, sehr zur Freude des sich abschottenden Globalen Nordens
Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGELDoch Ruanda kommen diese Abkommen entgegen: Zum einen erhält das Land im Gegenzug Geld, vor allem in Pandemiezeiten eine willkommene Einnahmequelle. Zum anderen verschaffen die Deals dem autokratischen Präsidenten Kagame politisches Kapital. Gern präsentiert er sein Land als Vorzeigestaat, Menschenrechtsorganisationen zeichnen jedoch ein ganz anderes Bild: Die Opposition wird gnadenlos unterdrückt, Meinungsfreiheit existiert höchstens auf dem Papier.
Je abhängiger sich der Globale Norden in Sachen Migration allerdings von Ruanda macht, desto leiser wird auch die Kritik an der Regierungsführung des afrikanischen Partners. Das ließ sich bereits beobachten, als die britische Innenministerin Priti Patel in Kigali den neuen Deal verkündete: Sie lobte Ruanda als sicheres und demokratisches Land.
Der ruandische Außenminister betonte mehrfach, dass ja schon jetzt afghanische Geflüchtete im Land beherbergt würden. Das schnelle Ja zur Aufnahme von Fatema Samim und den anderen Afghaninnen und Afghanen auf der Flucht vor den Taliban war also wohl auch ein politischer Schachzug.
Vaughan Turekian von der Nationalen Akademie der Wissenschaften war jedenfalls froh, dass überhaupt ein Land so schnell zugesagt hat. Doch damit war die Mammutaufgabe längst nicht erledigt: Tage und Nächte verbrachte er anschließend am Telefon, um die Betroffenen zum Flughafen in Kabul zu lotsen, immer wieder scheiterten die Versuche vor Ort. Am Ende schafften es Fatema Samim und die anderen doch noch, einige mussten sich über die Landgrenze nach Pakistan durchschlagen.
Naeem Salarzai hätte die Evakuierung nach Ruanda fast mit seinem Leben bezahlt. Auch er versuchte auf das Flughafengelände zu gelangen, harrte mit seiner Frau und den beiden Kindern mehr als 20 Stunden vor dem Eingang aus – bis er schließlich aufgab. Als sie wieder zu Hause ankamen, hörten sie in den Nachrichten von einer riesigen Explosion, genau an der Stelle, wo sie noch kurz zuvor gestanden hatten. Mehr als 90 Menschen starben. Der Kellner im Café in Kigali bringt einen Tee, während Salarzay von den Tagen Ende August erzählt.

Fatema Samim in ihrem Büro am College of Science and Technology in Kigali
Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGEL»Als ich in Ruanda gelandet bin, habe ich die grüne Landschaft gesehen, es hat geregnet. Ich liebe Regen. Das hat mich sofort entspannt«, erinnert er sich. Doch die ersten Tage seien schwierig gewesen, alles war fremd, sie konnten sich kaum verständigen. Dann fand Salarzai im Internet ein afghanisches Restaurant, er rief direkt an. »Der Besitzer erzählte mir, dass er wegen des Coronalockdowns geschlossen habe, doch er kochte dann zu Hause afghanisches Essen und brachte es uns vorbei. Es war so eine Erleichterung, mit jemandem in meiner eigenen Sprache zu reden.«
In den nächsten Tagen zeigte der Restaurantbetreiber ihnen die Stadt, die Märkte, die Moscheen. »Wir haben mit den Afrikanern ehrlich gesagt wenig zu tun. Wir haben uns hier ein Mini-Afghanistan aufgebaut«, sagt Naeem Salarzai. Die Bilder vom Flughafen, das Trauma der Flucht, all das hat er noch täglich in seinem Kopf. Aber manchmal machen sie Ausflüge, grillen, campen über Nacht. Das hilft beim Vergessen.
Salarzai und seine Familie sehen Ruanda als Transit, als Haltestelle auf dem Weg in eine sichere Zukunft in den USA. Immerhin sind sie nicht in einem Flüchtlingslager wie Tausende andere, müssen nicht für Essen anstehen oder in Zelten hausen. Sie seien sehr dankbar, versichern sie immer wieder. Und wollen doch vor allem eines: endlich Gewissheit, wie es weitergeht. Naeem Salarzai will in den USA promovieren, Fatema Samim dort eine Arbeit finden.

Ein Mini-Afghanistan in einem fremden Land: Afghanische Geflüchtete beim Gebet
Foto: Simon Wohlfahrt / DER SPIEGELDie Geflüchteten, die künftig aus England nach Ruanda gebracht werden sollen, haben weniger Glück. Für sie gibt es keine Perspektive, für sie ist hier Endstation. Auch wenn das Gästehaus, in dem sie untergebracht werden sollen, »Hoffnung« heißt. Den ruandischen Behörden ist dieser Zynismus wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen, als sie den versammelten internationalen Medien die neue Bleibe der unfreiwilligen Gäste präsentierten. Wir Ruander helfen Menschen in Not, das war die Nachricht, die ankommen sollte.
Fatema Samim hat es inzwischen geschafft: Ihr Visum ist endlich da, sie könnte nun in die USA aufbrechen, Ruanda würde irgendwann kaum mehr als eine Erinnerung werden, eine absurde Station auf dem Weg in ein besseres Leben. Doch noch hat sie keinen Flug gebucht. Wenn sie einen guten Job finde, wolle sie doch noch etwas bleiben, eigentlich gefalle es ihr doch ganz gut in Afrika, schreibt sie per WhatsApp. Ein verrückter Twist in einer verrückten Geschichte. Vielleicht schafft sie es sogar noch zu den Gorillas in den Nationalpark.
Naeem Salarzai will nicht bleiben, aber er hängt weiterhin fest, hat noch immer keine Nachricht aus Amerika. Doch er hoffe, schreibt er, dass es bald vorangehe; mehrere andere Familien aus Afghanistan hätten inzwischen Ruanda verlassen können.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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