Genitalverstümmelung »Männer gehen anders mit Frauen um, die auf eigenen Beinen stehen«

Lockdowns und Armut führen dazu, dass Genitalverstümmelungen in vielen Ländern zunehmen. Mit Aufklärung und Wirtschaftsprojekten wollen neue Initiativen die Mädchen vor der brutalen Tradition schützen.
Für Mädchen erhöht sich während der Pandemie das Risiko, beschnitten zu werden – manche flüchten sich in Notunterkünfte

Für Mädchen erhöht sich während der Pandemie das Risiko, beschnitten zu werden – manche flüchten sich in Notunterkünfte

Foto: Marvi Lacar / Getty Images
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Die Mädchen werden mit Luftballons behängt, von tanzenden Menschen durch die Dörfer geleitet und mit Geschenken überhäuft: In Kenia feiern Gemeinschaften der Kuria-Ethnie die Genitalverstümmelung wie einen Kindergeburtstag . Selbst mitten in der Pandemie finden dort Beschneidungsfestivals statt, rund 2800 Mädchen wurden allein innerhalb weniger Wochen im vergangenen Herbst  dem traditionellen blutigen Ritual unterzogen.

Die äußeren Genitalien der Mädchen werden teilweise oder ganz entfernt, oft mit unhygienischen Werkzeugen wie Rasierklingen, Messern oder Scherben. Betroffene leiden häufig lebenslang unter Folgen wie Infektionen, Blutungen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und Komplikationen bei der Geburt – manche sterben.

Lokalen Berichten zufolge nutzen die Beschneiderinnen die während der Coronakrise »reduzierte Überwachung durch die Polizei« aus – denn die brutale Praxis ist in Kenia illegal.

Mädchen werden zwischen Babyalter und Pubertät beschnitten

Mädchen werden zwischen Babyalter und Pubertät beschnitten

Foto: Marwan Ali / AP

Weltweit sind mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen beschnitten, Genitalverstümmelung wird vor allem in Afrika, Asien und im Nahen Osten praktiziert, ist aber auch in Einwanderergemeinschaften in Europa verbreitet. Der Uno zufolge haben die Fälle zwischen 2000 und 2018 um 25 Prozent abgenommen. Doch die Krise droht Erfolge zunichtezumachen.

Rund zwei Millionen Mädchen  könnten infolge der Pandemie zusätzlich beschnitten werden, schätzt die Uno. In Gesprächen mit dem SPIEGEL warnten auch lokale Expertinnen, dass Genitalverstümmelung in Ländern wie Somalia, Kenia, Burkina Faso und im Sudan aktuell zunehmen.

»Während der Pandemie haben die Beschneider mehr Handlungsspielraum«, sagt Rhoda Nyakato, Kinderschutzspezialistin für den Nahen Osten, Ost- und Südafrika bei Plan International. Lehrer hätten die Mädchen nicht mehr im Blick: Wenn der Unterricht monatelang ausfalle, breche für Mädchen ein wichtiger Schutzraum weg – und die meist weiblichen Beschneiderinnen seien während der Lockdowns in manchen Gemeinden von Haus zu Haus gegangen, um ihre Dienste anzubieten.

Mädchen fehlt im Lockdown ohne die Schule ein wichtiger Schutz

Mädchen fehlt im Lockdown ohne die Schule ein wichtiger Schutz

Foto: Brian Inganga / AP

Die Armut, die sich in der Coronakrise verschärft, zwingt zudem mehr Familien dazu, ihre Töchter möglichst früh zu verheiraten. »Unbeschnittene Mädchen finden aber schwerer einen Bräutigam«, beobachtet Nyakato. »Deswegen lassen Eltern die Mädchen jung beschneiden, damit sie heiratsfähig sind.« Einem Bericht des Orchid Project  zufolge würden teils auch Beschneiderinnen aus wirtschaftlicher Not zu der Praxis zurückkehren, die sie zuvor aufgegeben hatten.

Befürworter dieser körperverletzenden Praxis profitieren derzeit davon, dass Regierungen, aber auch Nichtregierungsorganisationen während der Pandemie mit anderen Problemen beschäftigt sind. Budget fließt teilweise in Coronahilfen statt in Präventionsprojekte – und Aufklärungs- und Hilfsprojekte haben nur eingeschränkten Zugang zu Kindern und Familien.

Im vergangenen Jahr hat die Regierung im Sudan zwar Genitalverstümmelung verboten – doch viele Gemeinden halten sich nicht daran. Damit das Gesetz nicht nur auf dem Papier besteht, versuchen Organisationen wie Plan International die Menschen darüber aufzuklären, dass die Praxis illegal und schädlich ist.

Die Nichtregierungsorganisation unterstützt Mitglieder lokaler Kinderschutzeinrichtungen dabei, Sprachnachrichten aufzunehmen, die die Bevölkerung für die Folgen von Genitalverstümmelung oder Kinderhochzeiten sensibilisieren sollen. Helfer erhalten die Kampagnen auf einem Datenträger – und spielen die Botschaften auf öffentlichen Plätzen per Lautsprecher ab.

Junge Frauen feiern den Übergang ins Erwachsenenleben mit alternativen Ritualen

Junge Frauen feiern den Übergang ins Erwachsenenleben mit alternativen Ritualen

Foto: Adrian Mgaya / AMREF

Die sudanesische Regierung hat zudem eine neue Hotline  gegen häusliche und sexuelle Gewalt eingerichtet, um Frauen während der Pandemie zu unterstützen – dort können sich auch Mädchen melden, die fürchten, beschnitten zu werden. Sozialarbeiter und Psychologen beraten Betroffene psychologisch und rechtlich. Doch viele Mädchen halten das Ritual für normal, im Sudan sind den Vereinten Nationen zufolge neun von zehn Frauen beschnitten.

»In den Communities, die Beschneidung anwenden, soll das Ritual Mädchen vor verschiedenen sexuellen Praktiken schützen«, sagt Hawa Eltigani, die in Khartum für Plan International arbeitet. »Unbeschnittene Mädchen werden dagegen stigmatisiert und ausgegrenzt.« Eltigani organisiert »Girls-Klubs«, Gesprächsrunden, bei denen Mädchen und Teenager sich in kleinem Kreis mit Gleichaltrigen und Expertinnen austauschen können – und offen über die gesundheitlichen Folgen von Genitalverstümmelung und den sozialen Druck sprechen können.

Die Organisation Amref versucht das Selbstbewusstsein von unbeschnittenen Mädchen mit alternativen Ritualen zu stärken: Sie feiern den Übergang ins Erwachsenenleben ohne Rasierklinge – stattdessen bemalen die jungen Frauen sich, tanzen oder veranstalten Schönheitswettbewerbe. Mehr als 20.000 Mädchen haben in Kenia und Tansania bereits an dem Programm teilgenommen. Während der Pandemie werden die Mädchen in kleinere Gruppen aufgeteilt, um die Kontakte zu reduzieren. Zudem sollen junge Frauen als »Peer Educators« in ihren Gemeinden gegen Genitalverstümmelung aufklären.

Auch Technologie kann dabei helfen, Genitalverstümmelung zu verhindern. Die US-Organisation 2LastMile4D hat in Kenia ein Modellprojekt  durchgeführt, das zeigt, wie wichtig es ist, gefährdete Mädchen zeitnah zu identifizieren und engmaschig zu betreuen. Ein Prognosemodell sollte berechnen, ob sie unmittelbar in Gefahr sind. Rund 1000 Schülerinnen zwischen 9 und 17 Jahren wurden etwa nach ihren Befürchtungen gefragt, bald beschnitten zu werden, und ob sie wüssten, wie sich dagegen wehren könnten. Wenn ihre Geschwister bereits beschnitten waren, galt dies auch als Risikofaktor.

Mädchen müssen wissen, wohin sie flüchten können

Mädchen müssen wissen, wohin sie flüchten können

Foto: Marvi Lacar / Getty Images

Schülerinnen aus der höchsten Risikostufe besuchte das Team regelmäßig. Die Helfer luden die Daten direkt auf eine zentrale Plattform hoch. So wurden bald lokale Trends sichtbar: Beschneiderinnen konnten sich während der Pandemie etwa »leichter, früher und schneller in den Dörfern bewegen«, heißt es in der Studie. »Die Beschneidungssaison, die normalerweise Mitte November beginnt, hatte als Folge von Covid-19 stattdessen im September 2020 begonnen.«

Zusammen mit der kenianischen Regierung richtete 2LastMile4D daraufhin eine Notunterkunft in einer Schule ein. 140 Mädchen, die vor einer Beschneidung geflüchtet waren, wohnten dort von August bis Dezember. Fast alle leben heute wieder bei ihren Familien – Helfer und Polizisten trafen sich aber vorher mit den Eltern und ließen sich garantieren, dass sie die Mädchen nicht beschneiden würden. 2LastMile4D kontrolliert bis heute, wie es den Schülerinnen geht.

Der Studie zufolge wurde keine der Studienteilnehmerinnen beschnitten, zumindest nicht während der Laufzeit des Projekts.

Fadumo Korn (r.) wurde als Kind beschnitten – der Kampf gegen Genitalverstümmelung ist für sie eine Lebensaufgabe

Fadumo Korn (r.) wurde als Kind beschnitten – der Kampf gegen Genitalverstümmelung ist für sie eine Lebensaufgabe

Foto: Walter Korn

Die Aktivistin Fadumo Korn, die in München lebt, hält den Kampf gegen Genitalverstümmelung aber für aussichtslos, solange die lokalen Führer und Dorfältesten keine Mitstreiter werden. In Burkina Faso arbeitet sie inzwischen mit acht Clanoberhäuptern zusammen, die sich der Tradition entgegenstellen: »Das Wort der Könige ist Gesetz«, sagt Korn. »Wer seine Mädchen beschneidet, fliegt aus der Gemeinde raus.«

Die Somalierin wurde selbst mit sieben Jahren beschnitten, sie kann die Schmerzen und die gesundheitlichen Folgen eindrücklich schildern. Bei Aufklärungsveranstaltungen in Burkina Faso zeigt ihr Team brutale Aufnahmen wie eine tote Mutter und ihr Baby, das nur halb geboren werden konnte – da die Frau nach ihrer Beschneidung zugenäht worden war. Die Zuschauer könnten das Grauen Korn zufolge kaum ertragen: Manche würden sich die Hände kneten, andere anfangen zu beten.

Wenn Frauen wirtschaftlich unabhängig werden, können sie auch eher über ihren Körper bestimmen

Wenn Frauen wirtschaftlich unabhängig werden, können sie auch eher über ihren Körper bestimmen

Foto: Eric Lafforgue/Art in All of Us / Corbis via Getty Images

Die Aktivistin ist sich sicher, dass Genitalverstümmelung ohne solche Aufklärungsveranstaltungen wieder stark steigen würde. Mit ihrem Verein Nala betreibt sie auch ein Gartenprojekt in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso. 300 beschnittene Frauen pflanzen dort Obst und Gemüse an. So ernähren sie ihre Familien und tauschen oder verkaufen, was übrig bleibt.

»Finanzielle Unabhängigkeit ist das Wichtigste, damit Frauen über sich bestimmen können«, glaubt Korn. »Die Männer gehen ganz anders mit ihnen um, wenn sie auf eigenen Beinen stehen.«

Eine Bedingung müssen die Gärtnerinnen aber erfüllen, wenn sie ihr Beet behalten möchten: Ihre Töchter dürfen nie beschnitten werden.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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