Gewalt gegen Frauen »Nach zehn Jahren fühlte ich mich wie ein Hund, obwohl ich eine starke, kultivierte Frau bin«

»Er schlug mich. Um keine Spuren zu hinterlassen, trug er Sporthandschuhe«, berichtet diese Frau im Frauenhaus von L'Aquila in Italien
Foto: Serena Vittorini / Parallelozero
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
»Wenn er betrunken war, denke ich, hätte er uns sogar umbringen können, ohne sich am nächsten Tag daran zu erinnern.« – Eine Frau aus L'Aquila, Norditalien
»Er vertraute mir nicht, deshalb behielt er das Geld. Er zwang mich, meinen Beruf als Architektin aufzugeben. Er wollte, dass ich mich um das Haus und die Kinder kümmere.« – Eine Frau aus Bari, Apulien
»Er zertrümmerte mein Gesicht. Alle meine Knochen waren gebrochen. Heute trage ich eine Titanplatte in meiner Augenhöhle. Er terrorisierte mich damit, dass er sagte, er würde mir gern einen benzingetränkten Lappen in den Mund stecken und anzünden. Würde er es tun? Würde er es nicht tun? Ich wusste es nicht.« – Eine Frau aus L'Aqulia
Drei Berichte von Frauen. Berichte, in denen es um Gewalt geht, um Verachtung, Abhängigkeit und Angst. Die Frauen, die sie erzählen, kannten die Täter. Nicht selten waren oder sind sie mit ihnen verheiratet, es sind Ehemänner, Partner, Väter gemeinsamer Kinder. Die Fotografin Serena Vittorini hat die Berichte in vier Frauenhäusern in ganz Italien gesammelt, die Frauen mit ihrer Einwilligung porträtiert.
Begonnen hat ihre Recherche in L’Aquila im Norden des Landes, ihrer eigenen Heimatstadt. Die dortige Einrichtung zählt Jahr für Jahr etwa 60 neu ankommende Frauen. Bis zu sechs Monate können die Frauen im Haus bleiben. Sie erhalten Schutz, psychologische Beratung, Hilfe beim Neuanfang.
Seit der Gründung 2007 seien jedes Jahr ähnlich viele Frauen gekommen, sagt Simona Giannangeli, die das »Centro Antiviolenza per le Donne« seit Beginn leitet. Bis zum Frühjahr 2020. Ab da blieb das Telefon lange Zeit stumm. Medien berichteten damals, die Pandemie könne zu einem Anstieg häuslicher Gewalt führen. Doch Giannangeli und ihre Mitstreiterinnen hörten wochenlang nichts. Wenige Monate später wusste sie sicher, woran es lag: »Die Frauen konnten uns nicht mehr kontaktieren, weil die Männer in der Pandemie zu Hause blieben.«
Doch die Ruhe hielt nicht lange. Und die Wirklichkeit war schlimmer als die meisten Prognosen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der Notrufe betroffener Frauen im Jahr 2020 in Italien um 79,5 Prozent. Schon vor der Pandemie wurde in dem Land, statistisch gesehen, fast alle zwei Tage eine Frau Opfer eines Femizides, also einer Tötung aufgrund ihres Geschlechts. Wie hoch die Dunkelziffer ist und wie sie sich seit der Pandemie entwickelt hat, lässt sich kaum schätzen.
2020 stiegen die Notrufe um 79,5 Prozent
»Es gibt keine Pause«, sagt jedenfalls Simona Giannangeli. Wer sie für ein kurzes Gespräch erreichen will, braucht Geduld. Ihr Engagement kennt keine Büroarbeitszeiten. Das Reden über die Gewalt gegen Frauen ist wichtig, noch wichtiger aber sind konkrete Angebote. Die meisten italienischen Frauenhäuser werden von lokalen Vereinen betrieben, ein großer Teil der Helferinnen arbeitet ehrenamtlich. 57 Einrichtungen haben sich zu einem Dachverband zusammengeschlossen, dazu kommen lokale Beratungsstellen.
Was den Frauen, die in den Unterkünften Schutz gefunden haben, widerfahren ist, lässt Männer nicht gut aussehen. Es geht um physische Gewalt, um Erniedrigung, um Rache, um Hass. Aber auch um verbale Übergriffe, Grenzüberschreitungen, gezielten Missbrauch mit Worten, Psychoterror.
Die Täter, so zeigen es die Fotos und gesammelten Berichte von Serena Vittorini, sind so unterschiedlich wie auch die Betroffenen. Jung, alt, arm, reich. Vom Land und aus der Stadt, migrantisch oder italienisch. Was die Täter vereint, sind die völlige Missachtung von Grenzen und die offensichtliche Überzeugung, noch zur größten Grausamkeit berechtigt zu sein.
Die Folgen der Taten lassen sich in den Porträts der Betroffenen nur erahnen. Die Bilder sind auf den ersten Blick nüchtern und hell. Mit ergänzenden Symbolbildern der Tatwaffen wird das Grauen konkreter. Wirklich verständlich wird es jedoch erst durch die ergänzenden Protokolle, in denen die Frauen das Erlebte, die Brutalität, direkt und offen schildern. Für diese Texte, sagt Vittorini, habe sie sich meist mehr Zeit genommen als für das Fotografieren.
Das Ergebnis sind Bilder von Frauen, die am Ende stärker waren als ihre Peiniger. Und Zitate von Betroffenen, die ihre Namen nicht verraten können oder wollen, aber nicht länger schweigen. DER SPIEGEL zitiert hier aus diesen Berichten. Wir können diese nicht im Detail überprüfen, haben aber auch aufgrund der Gespräche mit den Helferinnen keinen Anlass, an deren Richtigkeit zu zweifeln.
In Zukunft soll betroffenen Frauen in Italien besser geholfen werden. Vor wenigen Tagen erst verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz. Es soll vorläufige Festnahmen ermöglichen, wenn die Unversehrtheit oder das Leben von Frauen auf dem Spiel stehen. Auch Frauen, die Täter vor Gericht gebracht haben, sollen bessere Unterstützung erfahren. Verurteilte können künftig elektronische Fußfesseln erhalten, Gewalttäter auf Bewährung müssen eine Schulung machen.
Für Simona Giannangeli vom Frauenhaus in L’Aquila sind es Schritte in die richtige Richtung. Sie selbst hat monatelang für diese Änderungen gekämpft. Damit das Problem richtig verstanden werde, sagt sie, müsse man jedoch weiterhin genau hinschauen, den Betroffenen eine Stimme geben und nichts beschönigen.
Die Fotos von Serena Vittorini könnten dabei ein Anfang sein.

Serena Vittorini, Jahrgang 1990, ist Absolventin des Istituto di Fotografia in Rom und der Universität Mailand. Ihre Fotoprojekte und sonstigen Werke wurden seit 2016 international vielfach vorgestellt und aufgeführt, ihr erster Kurzfilm »En ce moment« lief 2020 im Begleitprogramm der Filmfestspiele Venedig.
Hinweis: Die folgenden Bilder und die dazugehörigen Beschreibungen beschreiben explizite psychische und physische Gewalt gegen Frauen.

Frauenhäuser in Italien: »Alle meine Knochen waren gebrochen«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.