Gegen sexuelle Gewalt »Wir müssen bei den Männern ansetzen, weil die Mehrheit der Täter Männer sind«

Mehr Beleuchtung allein reicht nicht, damit Frauen sich sicherer fühlen: Initiativen weltweit machen Workshops mit Männern, damit sie nicht zu Tätern werden.
Für viele Frauen sind Alltagssituationen bedrohlich – damit sich das ändert, müssen Männer ihr Verhalten verändern

Für viele Frauen sind Alltagssituationen bedrohlich – damit sich das ändert, müssen Männer ihr Verhalten verändern

Foto: Enrique Castro-Mendivil / REUTERS
Globale Gesellschaft

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Vihang Jumle aus Neu-Delhi hatte keine Ahnung, wie viele Gedanken Frauen sich täglich machen müssen: Ständig zu überlegen, wo eine Gefahr lauern oder ob es ein Risiko sein könnte, ein Kleid zu tragen; immer eine Notrufnummer oder sogar Pfefferspray dabeizuhaben, sobald sie das Haus verlassen.

Vor vier Jahren wurde der junge Inder auf »Safecity« aufmerksam, eine Crowdsourcing-Plattform, die sexuelle Gewalt gegen Frauen dokumentiert und gemeinsam mit Anwohnern, Behörden und Polizei lokale Strategien gegen die Übergriffe entwickelt – so wurden in dem Marktviertel Lal Kuan in Neu-Delhi öffentliche Toiletten und Straßenlaternen repariert, und Wandbilder erinnern Männer nun daran, nicht mehr so zu starren.

Vihang Jumle wurde erst bei »Safecity« bewusst, welche Folgen Belästigung im öffentlichen Raum hat

Vihang Jumle wurde erst bei »Safecity« bewusst, welche Folgen Belästigung im öffentlichen Raum hat

Foto: Vihang Jumle

Jumle stieg 2017 ins Projekt ein, kümmerte sich als Freiwilliger um die Datenanalyse – und sprach in dem Team so offen über sexuelle Belästigung wie noch nie in seinem Leben. »Natürlich war mir klar, dass es sexuelle Gewalt wäre, wenn ich eine Frau ohne ihr Einverständnis anfassen würde«, sagt der 23-Jährige heute. »Aber Männer durchleben nicht dieselben Ängste wie Frauen – mir ist durch meine Arbeit bei >Safecity< bewusst geworden, wie verstörend es zum Beispiel ist, wenn Frauen hundertmal am Tag angestarrt oder angesprochen werden.«

Seitdem er versuche, Situationen aus der Perspektive von Frauen zu sehen, sei er viel einfühlsamer geworden, glaubt Jumle.

Männer verstehen oft nicht, wie sich Alltagssituationen für Frauen anfühlen

Männer verstehen oft nicht, wie sich Alltagssituationen für Frauen anfühlen

Foto: Dominika Zarzycka / NurPhoto / Getty Images

Weltweit leiden Frauen unter Übergriffen wie Catcalling oder unerwünschten Berührungen. Immer wieder kommt es zu Belästigungen, Vergewaltigungen und sogar Mord, wenn Frauen allein unterwegs sind – von Großbritannien bis nach Indien oder Mexiko.

Jüngst hatte der Mord an der 33-jährigen Sarah E. durch einen Polizisten in London Debatten darüber ausgelöst, wie der öffentliche Raum für Frauen sicherer gemacht werden kann. Einige Städte setzen bereits auf bessere Beleuchtung, übersichtlichere Bahnhöfe oder Trainings für Busfahrer und Polizisten.

Doch es reicht nicht, Symptome zu bekämpfen. Damit sich wirklich etwas verändert, sollten nicht Frauen Umwege nehmen müssen, sondern vielmehr Männer ihr Verhalten reflektieren. Initiativen auf der ganzen Welt arbeiten daher mit Tätern, um zu verhindern, dass sie erneut übergriffig werden. Oder dass Jungen und Männer überhaupt erst zu Tätern werden.

Hochschulen in Indien: Trainings für Studenten

»Wir müssen bei den Männern ansetzen, weil die Mehrheit der Täter Männer sind«, sagt auch Karmini Sharma, die an der britischen Universität Warwick zu sexueller Belästigung in Indien forscht. »Wir haben keine Chance, das Problem zu lösen, wenn #MeToo eine reine Frauenbewegung bleibt.«

Als die #MeToo-Welle Ende 2018 verspätet Indien erreichte, merkte Sharma in Gesprächen mit Männern, dass diese die Erlebnisse von Frauen anzweifelten: Viele Inder konnten nicht nachvollziehen, warum Frauen erst Jahre später von ihren Erfahrungen sprachen. »Ich war erschüttert, dass sie nicht verstehen können, wie sehr und wie lange sexuelle Belästigung jemanden belasten kann«, sagt Sharma. »Es fehlte völlig an Empathie – wahrscheinlich auch, weil so wenig über dieses Thema gesprochen wird.«

Im Gedrängel in dem Marktviertel Lal Kuan in Neu-Delhi werden Frauen oft belästigt, aber auch an Universitäten sind Übergriffe Alltag

Im Gedrängel in dem Marktviertel Lal Kuan in Neu-Delhi werden Frauen oft belästigt, aber auch an Universitäten sind Übergriffe Alltag

Foto: Sanjeev Verma / Hindustan Times / Getty Images

Karmini Sharma entwickelte 2019 zusammen mit »Safecity«-Trainern ein Konzept für Workshops mit Studenten. Rund 900 Teilnehmer zwischen 18 und 21 Jahren erreichte sie mit den Kursen zu sexueller Gewalt. Die jungen Männer diskutierten anonymisierte Berichte von Übergriffen, die tatsächlich an der Universität stattgefunden hatten – oder sie stellten Situationen in Rollenspielen nach. »Viele Männer waren sehr überrascht, dass anzügliche Witze oder eine Frau immer wieder nach einem Date zu fragen, obwohl sie ablehnt, als sexuelle Belästigung gelten«, beobachtete Sharma.

Die Kursteilnehmer lernten auch einzuschreiten, wenn sie Fehlverhalten von Kommilitonen beobachten. Der sogenannte Peer-Pressure-Mechanismus kann die Wahrscheinlichkeit von Übergriffen ebenfalls senken. Wichtig ist Sharma zufolge, die Männer als Komplizen im Kampf gegen die Gewalt zu sehen und nicht wie Täter zu behandeln: »Man muss ihnen vermitteln, dass sie Teil der Lösung sind.«

In »Safecity«-Workshops lernen Teilnehmer, welche Verhaltensweisen als Belästigung wahrgenommen werden können

In »Safecity«-Workshops lernen Teilnehmer, welche Verhaltensweisen als Belästigung wahrgenommen werden können

Foto: Elsa D'Silva

Das Training zeigte Wirkung: Sharma befragte die Männer vor und nach den Workshops sowie zusätzlich 1300 Studentinnen. 45 Prozent der jungen Frauen hatten in den beiden Monaten vor der Umfrage Vorfälle wie anzügliche Witze, Sprüche oder Stalking auf dem Campus erlebt. 17 Prozent waren an der Universität bereits körperlich belästigt, etwa begrapscht worden. Zwölf Prozent der milderen Vorfälle und drei Prozent der körperlichen Übergriffe gingen direkt von Kommilitonen aus den Studiengängen der Frauen aus.

Extreme Formen der Belästigung wie Begrapschen haben Sharma zufolge bis mindestens drei Monate nach dem Training aufgehört. »Ich kann aber nicht sagen, ob die Männer das Verhalten auf lange Sicht beibehalten«, so die Trainerin.

Wenn sexualisierte Gewalt in der Erstsemesterprüfung abgefragt wird

Auch in Vietnam bemühen sich Hochschulen, das Leben junger Frauen auf dem Campus sicherer zu machen – mit Onlinetutorials. Zwei Universitäten in Hanoi starteten vor Kurzem das Projekt »GlobalConsent «. Männliche Studierende werden dazu angehalten, ein kostenloses Programm auf ihre Computer oder Smartphones herunterzuladen. Der Inhalt: Sechs Onlinekurse, die den jungen Männern vor Augen halten, wo Belästigung anfängt. Welcher Schritt ein Schritt zu weit ist. Und genauso wichtig: Wie sie ihr Verhalten ändern können. Wie sie einschreiten können, wenn sie im Hörsaal, in der Kantine, im Alltag sexuelle Übergriffe auf Frauen beobachten.

Die Soziologin Kathryn Yount von der Emory Universität in Atlanta begleitet das Programm wissenschaftlich. Sie sagt: »Die Wirkung der Onlinekurse ist überwältigend.« Die Studenten seien eher bereit zu deeskalieren. Ein Großteil habe die Art und Weise geändert, eine Frau anzusprechen – in Chats und im realen Kontakt. Die Fälle sexualisierter Gewalt seien an beiden Unis zurückgegangen. Ziel sei nun, die Onlinekurse an allen Hochschulen in Vietnam anzubieten, sie vielleicht sogar verpflichtend für die Erstsemesterprüfung zu machen.

Ein Projekt gegen sexualisierte Gewalt in Slumschulen um Nairobi spricht gezielt Jungen an

Ein Projekt gegen sexualisierte Gewalt in Slumschulen um Nairobi spricht gezielt Jungen an

Foto: Dennis Sigwe / SOPA / LightRocket / Getty Images

Gerade in der Pandemie, wenn Präsenzkurse ausfallen, seien diese Onlineworkshops sinnvoll. »Wir können uns auch vorstellen, die Kurse bei YouTube und anderen sozialen Medien hochzuladen«, sagt Yount. Ihr ist bewusst, dass die Aufklärungsvideos dort mit schädlichen Clips konkurrieren müssten, die Männer zu mehr Gewalt anstiften: Filme, auf denen Vergewaltigungen, Nacktheit, Erniedrigungen von Frauen zu sehen sind. »Gleichzeitig ist es so wichtig, diesen kriminellen Dingen im Netz etwas entgegenzusetzen«, so Yount.

Slumschulen in Nairobi: »Nein heißt Nein« im Unterricht

Je früher Jungen angemessenes Verhalten lernen, desto besser – doch Sex, Aufklärung und das Thema sexuelle Gewalt sind in vielen Ländern bis heute ein Tabu , werden in den Lernplänen ausgeklammert.

In Nairobi werden seit einigen Jahren 14- bis 18-Jährige in Slumschulen gezielt angesprochen: Die Kinder lernen im Unterricht mehr über die Körper von Männern und Frauen, sie können im geschützten Raum Fragen stellen, statt hinterher nach Antworten im Netz suchen zu müssen. Sie werden über Vergewaltigungsmythen aufgeklärt. Lernen, dass Sex einvernehmlich geschehen muss. Und wie man eingreift, wenn man als Junge Zeuge eines Übergriffs wird.

Auch die Projekte der Initiative »No means No«  in Zusammenarbeit mit der Stanford University sind erfolgreich: Ein Dreivierteljahr nach dem Training wurden die Jungen an den Schulen von Nairobi noch einmal befragt. Die Mehrheit hatte eine positivere Einstellung gegenüber Frauen als jene Jungen, die nicht am Programm teilgenommen hatten.

Und drei Viertel der Jugendlichen waren in den Monaten nach den Workshops eingeschritten, wenn sie Zeugen von Übergriffen auf Mädchen wurden.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

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