Gleichberechtigung Wie Frauen in der Coronakrise zu "Stoßdämpfern" werden

Die Pandemie vertieft die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen
Foto: Stina Stjernkvist / AP
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Besonders viele Frauen kämpfen als Krankenschwestern und Pflegekräfte an der Front gegen das Coronavirus, sie müssen während Lockdowns Haushalt und Homeschooling jonglieren, viele verlieren ihre Jobs im informellen Sektor, etwa als Hausangestellte - und der Staat lässt sie dabei oft allein.
Wie die digitale Plattform "COVID-19 Global Gender Response Tracker " der Uno-Agenturen "UNDP" und "UN Women" offenbart, haben viele Länder weltweit keine ausreichenden Konzepte entwickelt, um Frauen und Mädchen in der Coronakrise speziell zu schützen und zu unterstützen.

Der "Gender Response Tracker" der Uno vergleicht Frauenpolitik während der Pandemie weltweit
Der "Gender Response Tracker" der Uno hat insgesamt 2500 globale Corona-Maßnahmen auf gendersensible Aspekte ausgewertet und analysiert, wie 206 Länder und Territorien gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen vorgehen, Frauen bei der unbezahlten Pflegearbeit entlasten und ihre wirtschaftliche Sicherheit stärken.
Rund ein Fünftel der untersuchten Staaten hat gar keine Strategien dieser Art - und nur 25 Länder weltweit adressieren Probleme in allen drei Bereichen. Die Uno warnt davor, dass Fortschritte für Frauen durch die Pandemie um Jahrzehnte zurückgeworfen werden könnten.
Die Coronakrise verschärft bestehende Ungleichheiten, auch zwischen Männern und Frauen. "Während Männer unter höheren Corona-Sterblichkeitsraten leiden, sind Frauen von den wirtschaftlichen und sozialen Folgen besonders betroffen", sagt Silke Staab, die als Forscherin und Datenspezialistin für "UN Women" arbeitet.

Frauen arbeiten als Krankenschwestern an der Front der Pandemie - doch die Corona-Politik vernachlässigt sie oft
Foto: Speed Media / APFrauen seien Staab zufolge einem höheren Risiko ausgesetzt, Opfer häuslicher Gewalt zu werden, da sie während der Quarantäne mit gewalttätigen Beziehungspartnern eingesperrt seien, sie müssten als unbezahlte Betreuerinnen in Familien und Gemeinden die Lücken füllen, die geschlossene Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen und andere Dienste hinterlassen. Zudem seien sie besonders davon betroffen, dass unsichere Arbeitsverhältnisse gerade "in alarmierender Weise" verloren gehen würden.
Denn Frauen arbeiten traditionell häufiger in schlechter bezahlten und nicht abgesicherten Berufen: 740 Millionen Frauen weltweit haben ihr Geld vor der Krise im informellen Sektor verdient, so ein Gleichstellungsbericht von "UN Women" .
Allein in Lateinamerika haben etwa viele Familien ihre Hausangestellten in der Krise gefeuert oder sie freigestellt, ohne sie weiterzubezahlen - um das Infektionsrisiko für sich zu verringern oder um Geld zu sparen.

Frauen müssen einspringen, wenn Schulen in der Coronakrise den Unterricht einschränken
Foto: JOHN ANGELILLO / UPI Photo / imago imagesFrauen verdienen generell weltweit durchschnittlich rund 16 Prozent weniger als Männer, in manchen Ländern sogar bis zu 35 Prozent weniger - zudem schultern sie den Großteil unbezahlter Care-Arbeit, von der Kindererziehung bis zur Altenpflege. Vor der Pandemie mussten Frauen täglich 4,1 Stunden für solche Pflege- und Haushaltstätigkeiten aufwenden, während es bei Männern nur 1,7 Stunden waren; nun wächst diese ungleich aufgeteilte Arbeitslast noch.
Nur ein Bruchteil der Wirtschaftsprogramme, die weltweit die ökonomischen Folgen der Krise abfedern sollen, gehen allerdings speziell auf die steigende Belastung durch Familienarbeit und die wachsende wirtschaftliche Unsicherheit von Frauen ein.
"Die Rolle der Frauen als Stoßdämpfer in Krisen wie Covid-19 stärkt Familien und Gemeinschaften, hat aber oft dauerhafte negative Auswirkungen auf ihre wirtschaftliche Sicherheit und Autonomie", warnt Silke Staab von "UN Women". Aus früheren Krisen sei bekannt, dass sich die Beschäftigung von Frauen viel langsamer erhole als die von Männern, wenn die Wirtschaft wieder anzieht.
Als aktuelle Positivbeispiele für Strategien, die Frauen im Blick haben, hebt die Uno etwa finanzielle Unterstützung für bedürftige Frauen und Familien in Pakistan oder Argentinien sowie Lebensmittelverteilungen an Frauen-geführte Haushalte in Ruanda hervor.
Trainingsprogramme in Kolumbien, Mexiko und Nigeria versuchen zudem, Frauen für digitale Unternehmensgründungen, Onlinemarketing und -handel weiterzubilden, damit sie ihre Produkte und Dienstleistungen während der Krise online vertreiben können.
Die meisten gendersensiblen Corona-Konzepte weltweit zielen jedoch darauf ab, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen einzudämmen. Rund 70 Prozent der knapp tausend untersuchten Programme in 135 Ländern entfallen auf Krisenhilfe für Gewaltopfer, Betreuung oder Prävention.
Häusliche Gewalt hat weltweit während der Corona-Pandemie zugenommen: Frauenzentren berichten von steigenden Notrufen und Gewalttaten, in Ländern wie Mexiko nehmen auch die Morde an Frauen weiter zu.
Stressfaktoren wie finanzielle Engpässe, aber auch das Zusammenleben auf engstem Raum während des Lockdowns steigern Aggressionen - und Frauen können ihren gewalttätigen Partnern nicht ausweichen. Zahlreiche Staaten haben daher etwa die Kapazitäten von Telefon-Hotlines, aber auch von Internet-Beratung ausgebaut.
Allein Argentinien hat dem "Gender Response Tracker" zufolge 13 Maßnahmen gegen Gewalt eingeführt. Victoria Vaccaro, Expertin für genderspezifische Gewalt beim United Nations Population Fund (UNFPA), hat argentinische Provinzen dabei unterstützt, Notrufnummern auszubauen, WhatsApp- und E-Mail-Kontakte oder kostenlose Rechtsberatung einzuführen.
Dennoch gibt es Vaccaro zufolge angesichts der hohen Gewaltraten "nie genug Ressourcen dieser Art, Notunterkünfte und Heime für einen umfassenden Schutz für Frauen in Gewaltsituationen und ihre Kinder".

In Mexiko protestieren Frauen gegen Frauenmorde und Missbrauch
Foto: Carlos Tischler / The Photo Access / imago imagesDer "Gender Response Tracker" wird laufend aktualisiert und soll dazu beitragen, politische Reformen zu beschleunigen, indem er auf Lücken in den nationalen Strategien hinweist und bewährte Praktiken vorstellt.
Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland liegen derzeit im globalen Vergleich bei der Reaktion auf Gewalt gegen Frauen und bei der Entlastung im Bereich unbezahlter Pflegearbeit vorn - mit einem Anteil von 32 Prozent an allen Antigewaltmaßnahmen weltweit und fast der Hälfte aller Programme zu Care-Arbeit, wie zum Beispiel Freistellung von der Arbeit für die Kinderbetreuung oder finanzielle Hilfen für Eltern. Lateinamerika und die Karibik haben dagegen die meisten Strategien eingeführt, um die wirtschaftliche Sicherheit von Frauen zu stärken.
Wie nachhaltig die Konzepte sind, muss sich aber erst noch zeigen. Dabei reicht es laut Uno nicht, allein die Projekte zu zählen, um auf ihren Erfolg zu schließen. Manchmal könne etwa eine einzelne, proaktive und gut implementierte Strategie eine größere Wirkung haben als mehrere kleine Ansätze, die versuchen, Probleme im Nachhinein zu lindern.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.