Gleichberechtigung in der Coronakrise Angriff auf die Emanzipation

Wer übernimmt die Betreuung der Kinder, wenn die Schulen geschlossen bleiben? In vielen Fällen sind das immer noch Frauen
Foto: Josep Rovirosa/ imago images/Westend61Es gibt kein Land auf der Welt, in dem Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Und das Coronavirus ist der Beweis. Auch für Männer stellt die Krise eine Katastrophe dar; für sie endet die Krankheit im Durchschnitt sogar häufiger tödlich.
Doch es werden Frauen sein, die disproportional unter den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu leiden haben. Das hat sich in vergangenen Krisen gezeigt, sei es nach der Ebola-Epidemie oder nach der Finanzkrise. Und das zeigt sich auch jetzt - und zwar überall auf der Welt: in armen wie auch in reichen Ländern. In Deutschland genauso wie Indien, in den USA genauso wie in Brasilien.
Die Pandemie ist ein Angriff auf die Emanzipation. Sie hat das Zeug dazu, "die begrenzten Fortschritte des vergangenen Jahrzehnts wieder rückgängig zu machen", warnt ein Bericht der Vereinten Nationen über die Auswirkungen von Covid-19 auf Frauen. Die Krise schafft dabei nicht zwingend neue Ungleichheiten zwischen Mann und Frau; sie legt sie in vielen Fällen bloß offen. In anderen kann das Virus aber auch Ungerechtigkeiten verstärken.
Eine Abtreibung gilt nicht als "essenzielle Dienstleistung"
In den USA zum Beispiel nutzen Abtreibungsgegner die Pandemie als Vorwand, um die Einschränkung von Abtreibungsrechten zu beschleunigen. Acht US-Bundesstaaten - Alabama, Arkansas, Iowa, Louisiana, Texas, Ohio, Tennessee und West-Virginia - bemühten oder bemühen sich darum, die Prozeduren während Covid-19 zum Stillstand zu bringen.
Konservative Politiker stufen Schwangerschaftsabbrüche als "nicht essenzielle" Dienstleistung ein. Im Namen der Sicherheit schließen gerade jene Staaten, die bereits vor Covid-19 harsch gegen das Thema Abtreibung vorgingen, geplante operative Eingriffe aus. Einige argumentierten, dass Krankenhausbetten frei bleiben müssten oder dass Schutzausrüstung für Ärzte gespart werden müsse; Argumente, die Experten für höchst fraglich halten.

Demonstrantinnen protestieren im März in Texas. Sie fordern ein Recht auf Abtreibung
Foto: Jacquelyn Martin/ AP"Viele Staaten haben gemerkt, dass es vor der Pandemie nicht möglich war, Abtreibung so schnell illegal zu machen. Jetzt hoffen sie, dass die Pandemie ihnen hilft, den Prozess zu beschleunigen", sagt Mary Ziegler, Juraprofessorin an der Florida State University und eine der prominentesten US-Expertinnen zu Abtreibungsrechten.
Alaska, Louisiana und Arkansas gehören zu jenen Staaten, die durchgesetzt haben, dass Abtreibungsverbote bestehen bleiben, mit ihren Gesetzen könnte der Oberste Gerichtshof sich bald befassen. Andere Staaten, wie etwa Texas, nahmen ihre Einschränkungen mit den Lockerungen im Bundesstaat zurück. Dennoch haben Millionen Frauen in den USA während der Pandemie keine Chance, eine Abtreibung in Anspruch zu nehmen.
Ausgeliefert in den eigenen vier Wänden
Hinzu kommt, dass die Fälle von häuslicher Gewalt in Ländern, die einen Lockdown durchgesetzt haben, in die Höhe schnellen. Viele Frauen und Mädchen sind in diesen Wochen des Eingesperrtseins Missbrauch und Misshandlungen ausgeliefert - was wiederum zu einer erhöhten Zahl an ungewollten Schwangerschaften führt.
Schon Anfang April warnte der Uno-Generalsekretär António Guterres auf Twitter: "Ich mahne alle Regierungen, die Sicherheit von Frauen an erste Stelle zu setzen, wenn es darum geht, die Pandemie zu bekämpfen."
So bleiben etwa äußere Anzeichen für Verletzungen noch mehr als sonst vor der Gesellschaft verborgen - Betroffene haben noch seltener die Chance, heimlich Hilfe zu rufen. Das teilt etwa der Frauenverband "We will Stop Femicides" in der Türkei mit: Frauen hätten Angst, die Übergriffe anzuprangern. "Einige Frauen melden sich jetzt und sagen: Er hat mich misshandelt und ich kann das Haus nicht verlassen. Was soll ich tun?"
Das Codeword für häusliche Bedrohung: "Maske 19"
In Argentinien wurden während der ersten 20 Tage unter Quarantäne 18 Frauen von ihren Lebenspartnern oder Ex-Lebenspartnern ermordet. Die Anrufe bei einer Notfallnummer für bedrohte Frauen nahmen um 39 Prozent zu. "Seit dem Beginn der Quarantäne klopfen täglich bei uns Frauen an, die Zuflucht suchen", berichtet Marcela Marera, die sich als "Patin" um ein Frauenhaus in Burzaco kümmert, einem Vorort von Buenos Aires. "Gewalttätige Männer versuchen normalerweise, die Frau zu isolieren und ihre Kontakte nach außen zu kappen", sagt Morera. "Die Quarantäne ist deshalb ideal für die Täter."
Auch Marija Pejcinovic Buric, Generalsekretärin des Europarats, berichtet, Sofortnachrichten im Internet an entsprechende Hilfsorganisationen hätten in ganz Europa zugenommen. Das lasse darauf schließen, dass Täter ihre Opfer davon abhalten, telefonisch Hilfe zu suchen. In Italien sind während des Ausnahmezustandes die Anrufe beim nationalen Frauen-Notruf "Telefono Rosa" zwischenzeitlich um mehr als die Hälfte zurückgegangen.
Außerdem wurden viele Anlaufstellen für Frauen in Not in italienischen Städten wegen des Infektionsrisikos geschlossen. In Chile will das Frauenministerium jetzt 3000 Apotheken darauf vorbereiten, Beschwerden bedrohter Frauen aufzunehmen und an die zuständigen Institutionen weiterzuleiten. Das Codeword für die häusliche Bedrohung lautet "Mascarilla 19", "Maske 19".
Unsichtbare Arbeiterinnen
All das sind keine neuen Phänomene: Auch nach Hurrikan Katrina in den USA oder der Ebola-Epidemie in Westafrika stiegen die Fälle von Gewalt gegen Frauen. Und noch etwas zeigte sich damals: Frauen und Männer verloren zwar ähnlich häufig ihre Jobs, aber es dauerte länger, bis Frauen wieder eine neue Anstellung fanden. In vielen Fällen verdienten sie im Anschluss weniger als vorher. Das ergab eine Studie der kanadischen Simon Fraser University, die die Folgen von fünf Epidemien der letzten 20 Jahre untersucht hat.
Die Folgen sind besonders dramatisch in Ländern ohne funktionierendes soziales Netz. Etwa in Indien: Dort arbeitet ein Großteil der Frauen im informellen Sektor. Sie verkaufen Gemüse auf dem Markt oder nähen zu Hause Kleidung. Andere arbeiten als Hausangestellte in den Häusern der Wohlhabenden. Können sie - so wie jetzt während des Lockdowns - nicht arbeiten, erhalten sie auch keinen Lohn. Das wenig Ersparte ist schnell aufgebraucht.
"Jeden Tag sehen wir im Fernsehen die furchtbaren Bilder von Wanderarbeitern, die ihre Arbeit verloren haben. Die meisten von ihnen sind Männer und ihre Geschichten zerreißen mir das Herz", sagt Renana Jhabvala von "Sewa", einer Organisation, die Frauen in die Selbstständigkeit hilft. "Aber was ist mit den Frauen? Sie hungern genauso. Sie haben schon vorher weniger verdient als die Männer. Aber wir sprechen nicht über ihr Leid. Es ist, als wären Frauen in unserer Gesellschaft unsichtbar."
Die Vereinten Nationen fürchten, dass in der Folge der Pandemie die Einkommen und der Anteil berufstätiger Frauen "langfristig sinken" könnte. Und dieser Trend betrifft nicht nur arme Bäuerinnen.
In der Fürsorge-Falle
In Brasilien ist die Produktivität von Wissenschaftlerinnen dramatisch zurückgegangen, weil sie im Homeoffice von anderen Aufgaben überfordert werden. Nur zehn Prozent der Forscherinnen schaffe es, während der Quarantäne ihre Postgraduierten-Studien zu Hause weiterzuführen, ergab eine Umfrage der NGO "Parents in Science" unter 6000 brasilianischen Wissenschaftlerinnen.
"Die Pandemie hat die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verschärft", sagt die argentinische Feministin Mariana Carbajal. "Die Hausarbeit und die Beschäftigung der Kinder bleibt vor allem an den Frauen hängen, sie werden überlastet."
Die Folgen der Krise könnte die Gesellschaft auf jahrelange Sicht negativ prägen. Aber sie könnten auch das Gegenteil auslösen: Das Virus macht die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sichtbar - und damit auch die Möglichkeit und die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels.