Gleichberechtigung »Finnische Väter verbringen heute mehr Zeit mit ihren Kindern als ihre Frauen«

Vater und Sohn im Zentrum von Helsinki (Symbolbild)
Foto:Tiina & Geir / Getty Images/Image Source

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
SPIEGEL: Herr Mäkynen, eine offizielle Studie hat kürzlich herausgefunden, dass Frauen und Männer in Finnland beruflich und privat zum ersten Mal beinahe gleich viel arbeiten. Überrascht Sie das?
Mäkynen: In meinem eigenen Umfeld erlebe ich das schon länger so. In der Pandemie hat sich diese Entwicklung noch verstärkt. Viele Männer haben plötzlich von zu Hause gearbeitet, und alle konnten sehen, wie herausfordernd es ist, Job, Familie und Hausarbeit zu vereinen. Aber die Gleichstellung hat sich schon zuvor verbessert. Deshalb hat es mich auch nicht komplett überrascht. Was jetzt festgestellt wurde, ist das Ergebnis von jahrzehntelanger Arbeit.

Matias Mäkynen, Jahrgang 1990, ist seit 2019 Mitglied im finnischen Parlament. Der angehende Jurist gehört wie Ministerpräsidentin Sanna Marin den Sozialdemokraten an. Mäkynens Schwerpunkte sind die Rechts- und Gleichstellungpolitik. Er ist Mitglied im parlamentarischen Rat für Geschlechtergerechtigkeit und leitet den Unterausschuss für Männerfragen.
SPIEGEL: Wie hat Finnland das geschafft?
Mäkynen: Finnland ist ein kleines Land. Nach dem Krieg gab es einen besonders starken Zusammenhalt in unserer Gesellschaft – und einen Bedarf an Arbeitskräften. Das hat zusammen mit unserer Kultur sicherlich dafür gesorgt, dass Gleichberechtigung früher gefördert wurde als anderswo.
SPIEGEL: Mit welchen Maßnahmen?
Mäkynen: Wir waren bereits 1906 das erste Land weltweit, das Frauen das aktive und passive Wahlrecht verlieh. Außerdem haben wir schon früh stark auf gemeinsame Bildung und breite Betreuungsangebote gesetzt. So können auch Frauen Karriere machen und Mädchen eine gute Bildung erhalten. Die ersten Gesetze gegen Diskriminierung im Job gab es in den 1970ern, als in anderen Ländern noch die Hausfrauenehe propagiert wurde. Heute sind Frauen bei uns besonders gut qualifiziert. Natürlich sind wir Sozialdemokraten stolz darauf und schreiben uns das auf die Fahnen. Ich würde aber sagen, dass die meisten Parteien es unterstützen. Es gibt einen breiten Konsens. Denn am Ende ist es auch wirtschaftlich eine Verschwendung von Potenzial, wenn man die Hälfte der Bevölkerung vom Arbeitsleben fernhält.
SPIEGEL: Eine Erkenntnis der aktuellen Studie ist, dass Väter heute präsenter sind als Mütter. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Mäkynen: Das Familienbild hat sich in den vergangenen Jahren weiter gewandelt. Heute zeigen finnische Influencer, wie sie sich um ihre Familie kümmern. Für seine Kinder da zu sein, gilt als Zeichen von Verantwortung. Finnische Väter verbringen laut der Studie inzwischen mehr Zeit mit ihren Kindern als ihre Frauen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es angenehmer ist, auf den Spielplatz zu gehen, als den Abwasch zu machen. Das ist in Finnland nicht anders als in anderen Ländern. Bei der Hausarbeit leisten Frauen auch jetzt immer noch mehr.

Spaziergänger am finnischen Vatertag, Anfang November: Zeit für die eigenen Kinder zu haben, gilt inzwischen als Zeichen von Verantwortung
Foto: Marina Takimoto / ZUMA Wire / IMAGOSPIEGEL: Sie sind selbst junger Vater. Wer Sie anruft, hört im Hintergrund bisweilen Kindergeschrei. Wie teilen Sie sich in der Familie die Arbeit auf?
Mäkynen: Ich habe mich sehr bemüht, für meinen Sohn da zu sein. Als ich ins Parlament kam, war er gerade ein halbes Jahr alt. Es gibt ja bereits sehr viele starke Frauen in unserer Regierung. Premierministerin Sanna Marin ist inzwischen weltweit bekannt, mehr als die Hälfte ihres Kabinetts ist weiblich. Im Parlament war ich jedoch der erste Mann, der gleich viel Elternzeit nahm wie seine Frau. Ich habe dazu aber nie dumme Sprüche gehört. Dennoch ist es natürlich anstrengend, viel zu arbeiten und für die Familie da zu sein. Aber eigentlich ist es mir unangenehm, darüber zu reden. Ich habe nur versucht zu machen, was jede Mutter macht.
SPIEGEL: Trotz der Erfolge gibt es in Finnland immer noch deutliche Unterschiede: Frauen verdienen zumeist weniger, die Chefs sind oft männlich. Wieso verändert sich das nicht?
Mäkynen: Ein Großteil lässt sich auf die Berufswahl zurückführen. Uns fehlen männliche Pflegekräfte und weibliche IT-Spezialisten. Das verändert sich tatsächlich nur langsam. Für viele Menschen ist ein Holzfäller noch immer männlich, ein Chefarzt männlich. Das steckt offensichtlich tief in unserer Kultur. Wir wollten kürzlich ein umfassendes Transparenzgesetz verabschieden, das Gehaltsunterschiede offenlegen sollte. Die Gewerkschaften waren sehr dafür. In der Wirtschaft gab es jedoch Vorbehalte. Am Ende haben wir nur einen Kompromiss erreicht. Natürlich geht es da auch um Geld.
SPIEGEL: Sie sind Mitglied im finnischen Parlamentsausschuss für Männerfragen. Weltweit ist es nach eigenen Angaben das älteste derartige Gremium. Wofür braucht es das überhaupt?
Mäkynen: Es gibt viele Gründe, weshalb wir uns um Männer kümmern sollten. Ihre Gesundheit ist oft schlechter, sie sterben früher. Gleichzeitig haben sie bei einer Scheidung oft schlechtere Chancen auf das Sorgerecht, weil Frauen als die natürlichen Bezugspersonen gelten. Das ist nicht gerecht. Und dann gibt es in Finnland leider ein Problem mit häuslicher Gewalt. Um all das sollte man sich bewusst kümmern. Und genau das versuchen wir seit 1988.
SPIEGEL: In den vergangenen Jahren wurden Geschlechterdiskussionen zunehmend zum Kulturkampf stilisiert. Erleben Sie das auch?
Mäkynen: Wenn es um Genderfragen, Feminismus und Transrechte geht, gibt es auch bei uns oft schrille Töne. Die rechtspopulistischen »Wahren Finnen« versuchen, solche Themen immer wieder zu skandalisieren. Aber bei konkreten Anliegen spüre ich davon wenig. Unsere politische Kultur ist von Respekt geprägt. Selbst beim Abtreibungsrecht haben wir uns mit den Konservativen auf eine Lockerung geeinigt. Vielleicht ist das ein sehr finnischer Blick. Aber ich denke, für die meisten Parteien sind Frauen wie Männer gleichermaßen Zielgruppe. Sich nicht ernsthaft um sie zu bemühen, erscheint uns einfach sehr verantwortungslos.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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