Gutachten von Völkerrechtlern Aussetzung des Asylrechts durch Griechenland war illegal

Eskalation am Grenzübergang: Geflüchtete und griechische Polizei in Kastanies, Ende Februar 2020
Foto:ALEXANDROS AVRAMIDIS/ REUTERS

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Als Kyriakos Mitsotakis am Abend des 1. März sein nationales Sicherheitskabinett zusammenrief, hatte er dramatische Bilder vor Augen. An der Landgrenze zur Türkei versuchten Tausende Migranten, den Zaun nach Griechenland - und damit in die EU - zu überwinden, teilweise mit Gewalt.
Zuvor hatte sie der türkische Präsident sie dazu ermuntert. Griechische Grenzer schlugen die Menschen brutal zurück . Auch auf den ägäischen Inseln hatte sich die Lage verschärft, innerhalb von 24 Stunden kamen mehr als 900 Flüchtlinge an.
Mitsotakis traf an diesem Abend eine drastische Entscheidung: Er setzte das Recht auf Asyl für einen Monat aus. Neu ankommende Asylsuchende sollten schnellstmöglich wieder abgeschoben werden - ohne Verfahren. Die Entscheidung war sofort umstritten. Plötzlich stand nicht nur der Flüchtlingspakt mit der Türkei auf dem Spiel, sondern der Flüchtlingsschutz insgesamt.
In einem Gutachten, das dem SPIEGEL vorliegt, haben Völkerrechtler nun untersucht, ob das griechische Vorgehen rechtens war. Das Ergebnis: Griechenland hat mit der Aussetzung des Asylrechts und auch mit gewaltsamen Abschiebungen internationales und europäisches Recht gebrochen.
Geschrieben haben das Gutachten vier deutsche Juristinnen und Juristen, darunter Nora Markard, Professorin an der Universität Münster, und Catharina Ziebritzki vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
Für die Aussetzung des Asylrechts gebe es keine Rechtsgrundlage, heißt es darin. Die griechische Regierung hatte sich auf den Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU berufen. Dieser besagt, dass der Europäische Rat Maßnahmen zugunsten eines Mitgliedstaats beschließen kann, sollte dieser "aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage" sein.

Nur der Fluss trennt Europa von der Türkei: Migranten am Evros
Foto: Osman Orsal/ Getty ImagesDie Klausel erlaube es einem Mitgliedstaat aber nicht, im Alleingang Maßnahmen zu ergreifen, heißt es in dem Gutachten. Wie im Vertrag festgelegt, müsse die Europäische Kommission eine Maßnahme vorschlagen, das Parlament darüber beraten und der Rat das Vorgehen beschließen.
Erik Marquardt, Europa-Parlamentarier der Grünen, hat das Gutachten in Auftrag gegeben. "Griechenland hat in diesem Monat das Flüchtlingsrecht mit Füßen getreten", sagt er. Die Europäische Union müsse Menschenrechte auch in Krisenzeiten garantieren.
Gutachten prangert Pushbacks an
Die Völkerrechtler machen den griechischen Behörden noch einen weiteren Vorwurf. So brachten Grenzer offenbar zahlreiche Migranten und Flüchtlinge gegen ihren Willen zurück über den Grenzfluss in die Türkei. Das berichteten mehrere Migranten dem SPIEGEL und anderen Medien. Manche sagten, sie seien dabei geschlagen und misshandelt worden.
Diese illegalen Pushbacks finden am Evros offenbar schon lange statt. Der SPIEGEL hatte Anfang des Jahres mehrere Fälle enthüllt, die wenig Zweifel offenlassen.
Solche Rückführungen von Migranten in die Türkei verstoßen laut Gutachten ebenfalls gegen geltendes Recht, darunter das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip. Es ist ein Grundpfeiler des internationalen Flüchtlingsrechts und schreibt vor, dass jeder Asylsuchende ein Recht auf ein individuelles Asylverfahren hat.
Auch ein Urteil zu unmittelbaren Rückführungen an der spanisch-marokkanischen Grenze, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jüngst fällte, biete in diesem Fall keine Grundlage, mit der man die griechischen Pushbacks rechtfertigen könne, so die Juristinnen.
Die Krise an der griechisch-türkischen Grenze ist inzwischen vorbei. Anfang der Woche vertrieben türkische Polizisten die letzten Migranten von der Grenze, offiziell wegen der Corona-Epidemie. Sie wurden in Camps in anderen türkischen Städten gebracht.
Auch das Asylrecht hat die griechische Regierung wieder eingeführt. Die Suspendierung sei nur temporär gewesen, sagte Kyriakos Mitsotakis am Mittwoch in einem CNN-Interview . Asylanträge würden wieder regulär bearbeitet. Dass die griechische Regierung das Recht auf Asyl allerdings auch in der nächsten Krise gewährt, scheint alles andere als sicher.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.