Brisante Aussagen im Unterhaus Johnson als Premierminister? Ex-Berater Cummings nennt das »irre«

Dominic Cummings im Unterhaus
Foto: UK PARLIAMENTARY RECORDING UNIT / EPADieser Artikel wird laufend aktualisiert.
Seit Wochen gibt Dominic Cummings angebliche Interna über die Coronastrategie der britischen Regierung preis. Nun muss sich der ehemalige Chefberater von Boris Johnson im Unterhaus äußern – und hat dabei erneut schwere Vorwürfe gegen die britische Regierung erhoben: Das Kabinett von Premierminister Boris Johnson habe im Kampf gegen die Pandemie versagt.
Johnson habe die Gefahr von Corona zunächst unterschätzt, behauptet Cummings weiter. »Im Februar (2020) dachte Boris Johnson, es sei nur eine Gruselgeschichte. Er dachte, das sei die neue Schweinegrippe.« Weiter behauptete er, Johnson habe gesagt: »Ich werde (den medizinischen Chefberater) Chris Whitty dazu bringen, mir das Coronavirus live im Fernsehen zu injizieren, damit jeder merkt, dass es nichts ist, vor dem er Angst haben muss.«
Johnson infizierte sich später tatsächlich mit dem Virus und musste tagelang auf einer Intensivstation behandelt werden.
Die Freundin des Premierministers, Carrie Symonds, sei in der Hochphase der Pandemie »komplett übergeschnappt«, behauptete Cummings weiter. Anlass dafür sei ein Artikel in der »Times« gewesen, der sich mit dem Hund des Paares beschäftigt hat. Symonds habe darauf bestanden, dass die Presseabteilung des Premierministers sich darum kümmere.
Zudem bekräftigte Cummings seine Vorwürfe gegen die britische Regierung. »Als die Öffentlichkeit uns am meisten gebraucht hat, hat die Regierung versagt«, sagte er. »Die Wahrheit ist, dass Minister, hochrangige Beamte und führende Berater wie ich, katastrophal unter den Standards lagen, die die Öffentlichkeit in einer solchen Krise von ihrer Regierung erwarten kann«, sagte er.
Die Regierung habe die Anzeichen der sich ausbreitenden Pandemie nicht erkannt, sagte Cummings weiter, der damals Johnsons wichtigster und einflussreichster Berater war. Erst Ende Februar 2020 sei gesehen worden, dass die Krisenpläne »hohl« seien.
Cummings entschuldigte sich bei den Angehörigen der Coronatoten. Der Ex-Berater äußerte sich vor Mitgliedern zweier Unterhaus-Ausschüsse des britischen Parlaments. Er hatte die Regierung im November 2020 im Streit verlassen und ist nach Ansicht vieler Beobachter seitdem auf einem Rachefeldzug gegen Johnson .
Im Unterhaus sagte er nun auch, dass man Johnson bereits am 14. März vergangenen Jahres gesagt habe, er müsse einen Lockdown durchsetzen. Die Regierung habe dafür jedoch keinen Plan gehabt.
Fundamentalkritik an politischem System
»Es war ein großer Fehler von mir«, sagte Cummings auf die Frage, ob er zu spät bei Johnson interveniert habe. »Ich bereue bitterlich, dass ich nicht früher den Panikknopf gedrückt habe«, sagte er. Rückblickend gebe es keinen Zweifel, dass dies falsch gewesen sei.
Schwere Vorwürfe erhob Cummings auch gegen das Gesundheitsministerium. Der eigentliche Plan der Regierung sei es gewesen, eine Herdenimmunität zu erreichen. So habe der damalige oberste Spitzenbeamte Mark Sedwill Mitte März gesagt, Johnson solle die Bevölkerung zu Coronavirus-Partys aufrufen, ähnlich wie Eltern Windpockenpartys für ihre Kinder veranstalten. Das sei offizieller Rat des Gesundheitsministeriums gewesen, behauptete Cummings.
Ressortchef Matt Hancock hätte wiederholt gefeuert werden müssen, er habe in vielen Fällen »gelogen«, etwa über die Beschaffung von Schutzausrüstung. Das hätten Cummings und andere ranghohe Personen Johnson wiederholt gesagt. Hancock ist nach wie vor im Amt.
Cummings übte auch Fundamentalkritik am britischen politischen System und Personal. Als Beleg führte er an, dass es bei der vergangenen Wahl nur zwei Optionen gab: eine von Boris Johnson oder Jeremy Corbyn geführte Regierung. In einem System, das die Menschen vor solch eine Auswahl stelle, sei etwas »extrem schlecht gelaufen«. Es gebe Tausende Menschen mit besseren Führungsqualitäten.
Es sei auch verrückt, dass jemand wie er selbst so viel Macht haben könne, sagte Cummings. Und es sei »irre«, dass Johnson Premierminister geworden sei. Der Regierungsapparat müsse erklären, wie so viele ahnungslose Personen hochrangige Positionen bekleiden könnten. Cummings beklagte auch, dass es in der britischen Regierung keine klaren Zuständigkeiten gegeben habe und bis heute nicht gebe. Verschiedene Minister und Behörden hätten in der Coronakrise jeweils auf andere verwiesen.
Cummings sagte, es wäre besser gewesen, eine Art »Diktator« zu haben, der sich um die Coronakrise kümmern sollte. Wenn er Premierminister gewesen wäre, so Cummings, hätte er den Datenspezialisten Mark Warner dafür vorgesehen und ihm »königliche Autorität« über den Regierungsapparat gegeben.
Cummings zeichnete das Bild einer komplett ahnungslosen, überforderten und inkompetenten Regierung Johnson. Das »Datensystem« in der Regierungszentrale habe zunächst aus einem Whiteboard bestanden, auf das er Dinge geschrieben habe. Aus Sicherheitsgründen seien etwa Computer bei Treffen nicht erlaubt gewesen – also habe niemand entsprechende Daten zur Verfügung gehabt.
Auf die Frage, warum es zwei Monate gedauert habe, um ein Testsystem zu installieren, sagte Cummings, zu Beginn der Coronakrise sei die Regierung »quasi auseinandergefallen«.
Britische Regierung weist Vorwürfe zurück
In jüngster Zeit hatte sich Cummings bereits mehrfach kritisch über den Umgang der Regierung mit der Pandemie geäußert. Zuletzt hatte er am Wochenende auf Twitter behauptet, die Regierung habe bei ihrer ursprünglichen Strategie im Kampf gegen die Pandemie gelogen.
Bereits vor Beginn von Cummings Anhörung im Unterhaus hat ein Kabinettsmitglied die Vorwürfe zurückgewiesen. Verkehrsminister Grant Shapps sagte am Mittwoch im Sender Sky News, die Befragung von Dominic Cummings im Parlament sei ein »Nebenschauplatz«. Johnsons Ex-Vertrauter verfolge eine persönliche Agenda. Der Minister legte nahe, dass Cummings, der die Regierung im November 2020 im Streit verlassen hatte, sich revanchieren wolle. »Was seine Motive sind, überlasse ich anderen.«
Johnson äußerte sich am Mittag parallel zu Cummings Aussage. Im Parlament stand er in der sogenannten Prime Minister's Question Time Rede und Antwort. Er übernehme die volle Verantwortung für das, was passiert sei, sagte Johnson. Aber er bleibe dabei, dass die Regierung Leben retten und das Gesundheitssystem schützen wollte und sich dabei am besten wissenschaftlichen Rat orientiert habe.