Großbritannien Mehr als eine Million Menschen sollen sich isolieren

Großbritannien handelte in der Coronakrise zunächst zögerlich, nun ergreift die Regierung radikale Maßnahmen - und richtet vor allem anlässlich des Muttertages, der an diesem Sonntag in dem Land begangen wird, eindringliche Worte an die Menschen: Das beste Geschenk für die älteren Mütter sei, sich von ihnen fernzuhalten, um sie nicht zu gefährden, mahnte der britische Premierminister Boris Johnson.
"Wenn Ihre Mutter älter ist oder Vorerkrankungen hat, dann tut es mir leid, aber die Statistiken zeigen, dass das Risiko Ihrer Mutter an Covid-19 zu erkranken und daran zu sterben, höher ist als bei anderen Menschen." Deshalb: "Nutzen Sie Ihr Telefon oder Skype, aber vermeiden Sie den persönlichen Kontakt."
Johnson warnte, das britische Gesundheitssystem könne wegen der Corona-Pandemie innerhalb von zwei Wochen ähnlich "überfordert" sein wie das italienische, wenn sich die Briten nicht an die Regeln hielten und soziale Kontakte vermieden. Mehr als 5000 Menschen im Land haben sich bisher nachweislich mit dem Coronavirus infiziert, mehr als 200 Infizierte starben. Unklar ist die Dunkelziffer. Viele Verdachtsfälle werden bisher nicht getestet.
In einer Mitteilung des Premiers heißt es: "Die Zahlen sind sehr stark, und sie steigen rasant. Wir sind nur Wochen - zwei bis drei - hinter Italien." Das Land ist von der Pandemie, die ihren Ausgang in China nahm, besonders stark betroffen. Johnson appellierte an die Bevölkerung: "Wenn wir nicht zusammen handeln, wenn wir nicht die heldenhaften und kollektiven nationalen Anstrengungen unternehmen, um die Ausbreitung zu verlangsamen, ist es nur allzu wahrscheinlich, dass unser eigener National Health Service (NHS) ähnlich überfordert sein wird."
Mehr als eine Million Menschen sollen sich isolieren
Die britische Regierung ergriff am Sonntag weitreichende Maßnahmen, um besondere Risikogruppen besonders zu schützen. Bis zu 1,5 Millionen Briten mit Vorerkrankungen sollen sich zu Hause in eine dreimonatige Isolation begeben. Der Gesundheitsdienst NHS will Betroffene in den kommenden Tagen anschreiben, wie die Regierung mitteilte. Es geht um Menschen etwa mit Leukämie, schweren Atemwegserkrankungen und solche, die eine Organtransplantation hinter sich haben. Für sie könnte eine Infektion mit dem Erreger Sars-CoV-2 besonders gefährlich sein. Wo nötig, könnten die Patienten bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten unterstützt werden.
Britische Ärzte fürchten derweil, dass dem Land die schlimmsten Auswirkungen der Corona-Pandemie noch bevorstehen. "Wir wissen, was auf uns zukommt - und wir wissen, dass das gewaltig sein wird", zitiert der Fernsehsender Sky News einen Mediziner eines Londoner Krankenhauses, der anonym bleiben will. Die Lage in Großbritannien könnte dem Arzt zufolge noch verheerender als in Italien werden. Aus Mangel an Kapazitäten und Ausstattung müssten er und seine Kollegen künftig wohl Entscheidungen über Leben und Tod treffen müssen.
Die britische Regierung hatte zuletzt zudem weitreichende Maßnahmen ergriffen, um die Ansammlung mehrerer Menschen zu vermeiden - und die Ausbreitung von Covid-19 so zumindest zu bremsen. Am Freitag wurde der Betrieb an allen Schulen eingestellt. Seit Samstag sind landesweit alle Bars, Restaurants und Cafés geschlossen. Auch Nachtclubs, Theater, Kinos, Freizeitzentren, Sportstudios - und Pubs dürfen nicht mehr betrieben werden. "Ich weiß, dass wir etwas Außergewöhnliches machen", sagte Johnson dazu, "wir nehmen das uralte und unveräußerliche Recht frei geborener Menschen, in den Pub zu gehen, weg."
WHO: Ausgangsbeschränkungen reichen nicht
Johnson ist im Umgang mit der Corona-Pademie zuletzt erkennbar umgeschwenkt. In den vergangenen Wochen hatte er sich viel Ärger von der Bevölkerung eingehandelt, die einen Schlingerkurs kritisierte und schnelles, konsequentes Handeln vermisste. So weigerte sich Johnson etwa trotz massiven Drucks von Eltern und Lehrkräften tagelang, die Schulen im Land zu schließen. Noch vor wenigen Tagen hatte Johnson zudem behauptet, wenn sich alle an die Verhaltensregeln hielten, könne das Schlimmste im Frühsommer überstanden sein. Davon war zuletzt nicht mehr die Rede.
Mike Ryan, Experte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte, Ausgangsbeschränkungen und das Vermeiden sozialer Kontakte allein, reichten keineswegs aus, um die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen.
"Wir müssen uns wirklich darauf konzentrieren, diejenigen zu finden, die krank sind, die das Virus haben, und sie zu isolieren, ihre Kontakte zu finden und sie zu isolieren", sagte Ryan in einem BBC-Interview. "Denn wenn die Ausgangsbeschränkungen und Sperren wieder aufgehoben werden, besteht die Gefahr, dass die Krankheit wieder in die Höhe springt." Im Gesundheitssystem müssten deshalb strenge Maßnahmen ergriffen werden, um eben dies zu verhindern.
Das Problem: ein kaputtgespartes Gesundheitssystem
Was die Lage in Großbritannien so prekär macht, ist vor allem der desolate Zustand des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS. Er wird vor allem aus Steuermitteln finanziert und war einst ein Aushängeschild des Landes, ist inzwischen jedoch seit Jahren chronisch unterfinanziert und überlastet. Das Gesundheitswesen sei schlicht kaputtgespart worden, sagen Kritiker. So standen bis vor Kurzem zum Beispiel pro Kopf deutlich weniger Beatmungsgeräte zur Verfügung als in den meisten anderen Ländern Europas.
Der britische Premier hatte deshalb nun sogar Staubsaugerhersteller und Autobauer aufgerufen, entsprechende Apparaturen herzustellen. Am Sonntag kamen die ersten Prototypen neuer Beatmungsgeräte an. Die Produktion neuer Maschinen sollte bald beginnen, sagte Wohnungsminister Robert Jenrick. "Mittlerweile arbeiten eine Reihe von Herstellern mit uns zusammen." Derzeit stehen dem NHS den Angaben zufolge einige Tausend Beatmungsgeräte zur Verfügung. "Aber wir brauchen mehr", betonte Jenrick. Ob die Beatmungsgeräte am Ende für alle Covid-19-Lungenkranken reichen werden, ist noch ungewiss.
Ein weiteres Problem: In Großbritannien mangelt es an Pflegepersonal und Ärzten. Nicht zuletzt wegen der Turbulenzen um den Brexit haben viele medizinische Fachkräfte das Land in den vergangenen Monaten verlassen.